Evernight Bd.1 Evernight
bereits Lucas’ schönes Gesicht vorstellen, auf dem die Frage lag, ob in Evernight vielleicht etwas Seltsames vor sich ging. »Sie wird es den Leuten sagen, dass es Erich war. Wir müssen also nur behaupten, dass er ihr einen handfesten Streich spielen wollte, oder so etwas.«
»Das klingt vernünftig.« Warum nur sah sie so amüsiert aus? Der Grund wurde mir klar, als Mrs. Bethany hinzufügte: »Sie werden immer geschickter im Verschleiern, Miss Olivier. Das ist doch wenigstens ein Fortschritt.«
Ich hatte Angst, dass sie recht haben könnte.
10
Als in diesem Winter der erste Schnee fiel, waren wir alle enttäuscht: Er lag nur wenige Zentimeter hoch, gerade genug, um zusammenzuschmelzen und eine Eisschicht zu bilden, die die Gehwege rutschig werden ließ. Die Landschaft sah fleckig und trübe aus, und die gelbbraunen Hügel waren von nassen Schneewehen überzogen. Die Gargoyles vor dem Fenster meines Schlafzimmers im Turm hatten Perlen aus gefrorenen Wassertropfen auf Schuppen und Flügeln. Es gab einfach nicht genug Schnee, dass es Spaß gemacht hätte, darin herumzutoben oder sich auch nur am Anblick zu erfreuen.
»Steht mir«, flötete Patrice, die sich aus Spaß spielerisch einen giftgrünen Schal um den Hals gewickelt hatte. »Ich bin froh, dass endlich mal wieder die Sonne scheint.«
»Du meinst, jetzt, wo du auch wieder darin herumlaufen kannst.« Ich hatte so die Nase voll gehabt von Patrice und den anderen mit ihren ständigen Diäten für den Herbstball. Wie alle Vampire, die auf Blut verzichteten, waren sie dünner geworden… und sahen immer mehr nach Vampiren aus. Courtney und die Clique ihrer Bewunderer hatten das Sonnenlicht gemieden. Einem gutgenährten Vampir machte das überhaupt nichts aus, aber für einen hungernden war es schmerzhaft. Ich hatte es ertragen müssen, dass Patrice Stunden vor dem Spiegel zubrachte, wo sie zusah, wie ihr Spiegelbild immer schmaler und beinahe unsichtbar wurde. Ich hatte sogar das Gefühl, dass sie und die anderen noch zickiger als vorher waren, aber bei dieser Bande konnte man das nie so genau sagen.
Patrice hatte meine Anspielung verstanden und schüttelte empört den Kopf. »Seit dem Tag nach dem Ball geht es mir wieder gut. Und er war es wert, einige Wochen lang Magenkrämpfe zu haben und sich im Schatten zu halten! Irgendwann wirst du die Selbstbeherrschung zu schätzen lernen.« Sie amüsierte sich, was man an den Grübchen in ihrem runden Gesicht sah. »Aber nicht, solange Lucas in der Nähe ist, was?«
Wir lachten ausgiebig über einen dieser wenigen Scherze zwischen uns, den wir beide komisch fanden. Ich war froh darüber, dass wir ganz gut miteinander auskamen, denn bei Raquels Sorgen und den näher rückenden Prüfungen brauchte ich so wenig Stress wie möglich in meinem Leben.
Die Abschlussprüfungen waren brutal. Ich hatte das zwar erwartet, aber die Aufgaben für Mrs. Bethany schrieben sich keineswegs von allein, und die Matheprüfungen waren auch nicht leichter. Meine Mutter entwickelte eine ganz unerwartet sadistische Ader, als sie jedes kleinste Detail abfragte, das sie je im Kurs angesprochen hatte. Immerhin war der Hauptteil der Prüfung, nämlich der Aufsatz über das Missouri-Abkommen, vorher durch ihr Wippen auf den Fußballen angekündigt gewesen. Schätze, das heißt, dass Balthazar gut damit zurechtkommen wird , dachte ich, während ich so schnell schrieb, dass sich meine Hand, die den Stift hielt, verkrampfte. Ich hoffte, dass es bei mir auch nur halb so gut klappen würde.
Während der Woche mit den Abschlussprüfungen hatte ich mich in die Arbeit gestürzt, nicht nur, weil die Tests Schlag auf Schlag abliefen, sondern auch, weil das Lernen eine Möglichkeit zur Ablenkung bot. Indem ich Raquel dazu brachte, mich rund um die Uhr abzufragen, kam sie in Gedanken allmählich von dem ab, was beinahe im Wald vorgefallen war.
Es half, dass Mrs. Bethany Erich zu Strafarbeiten verdonnert hatte, wozu gehörte, dass er praktisch jede freie Minute damit beschäftigt war, die Flure zu schrubben und mir wütende Blicke zuzuwerfen, wenn er dazu die Gelegenheit hatte.
»Ich traue diesem Kerl nicht über den Weg«, sagte Lucas einmal, als wir an ihm vorbeiliefen.
»Du hasst nur, dass er so ein Draufgänger ist.« Das traf zwar zu, aber ich wusste andere, bessere Gründe dafür, Erich zu misstrauen.
Trotz unserer Anstrengung, Raquel beschäftigt zu halten, fühlte sie sich auch weiterhin verfolgt. Was auch immer sie
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