Evernight Bd.1 Evernight
war, aber für heute wollte ich nur aus der Sache herauskommen.
Ich machte einige weitere Schritte und rutschte die Dachschräge hinab, während ich gleichzeitig versuchte, die Stelle im Auge zu behalten, an der Erich gelandet war. Ich wollte sichergehen, dass er wirklich verschwunden war. Aber als ich mich an den Abstieg machte, sah ich eine andere Gestalt in der Dunkelheit, wie ein Schatten tief unter Meereswellen. Vielleicht war Erich nicht allein gekommen.
»Stopp!«, rief ich. »Wer ist da?«
Langsam erhob sich eine Silhouette im Schein des Mondes.
»Lucas! Was machst du denn hier?« Kaum hatte ich das gefragt, kam ich mir auch schon dumm vor. Er war aus dem gleichen Grund wie ich hergekommen, nämlich um herauszufinden, ob Erich Raquel nachstieg. Lucas antwortete nicht. Er starrte mich unverwandt an, dann machte er einen Schritt zurück.
»Lucas?« Zuerst verstand ich nicht, doch dann war mir mit einem Mal alles klar. Meine Reißzähne waren noch immer geschärft. Mein Mund war nass vom Blut. Wenn er schon einige Minuten lang dort gekauert hatte, dann musste er gehört haben, wie ich mit Erich sprach, und gesehen haben, wie ich ihn biss …
Lucas weiß, dass ich eine Vampirin bin!
Die meisten Menschen glauben nicht mehr an Vampire und würden sich auch nicht vom Gegenteil überzeugen lassen, egal wie sehr man es versuchte. Aber Lucas musste von gar nichts überzeugt werden, denn er starrte einer Vampirin mit Reißzähnen und blutigen Lippen ins Gesicht. Er sah mich an, als wäre ich eine Fremde… nein, als wäre ich ein Monster.
Alle Geheimnisse, die ich mein ganzes Leben lang hatte bewahren wollen, waren nun mit einem Schlag enthüllt.
11
»Warte«, flehte ich. Meine Lippen waren noch immer klebrig vom Blut. »Geh nicht. Ich kann alles erklären!«
»Komm mir nicht zu nah.« Lucas’ Gesicht war schneeweiß.
»Lucas - bitte…«
»Du bist eine Vampirin.«
Das konnte ich nicht abstreiten. Mein neu entdecktes Talent fürs Lügen brachte mich nun auch nicht mehr weiter. Lucas kannte die Wahrheit, und ich konnte sie nicht länger verbergen.
Er wich weiter vor mir zurück und stolperte über die Dachziegel, die Arme zitternd ausgestreckt, während er versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Der Schock hatte ihn unbeholfen gemacht… Lucas, der sich immer so geschmeidig und kraftvoll bewegt hatte. Es war, als wäre er geblendet worden. Ich wollte ihm nachlaufen, und sei es auch nur, um ihn davor zu bewahren, die Balance zu verlieren und zu stürzen. Aber vor allem wollte ich sehnlichst alles erklären. Doch er würde nicht zulassen, dass ich ihm half; nun nicht mehr. Wenn ich Lucas hinterherliefe, würde er in Panik geraten und wegrennen. Vor mir wegrennen.
Bebend ließ ich mich aufs Dach sinken und sah Lucas hinterher, als er sich zurückzog. Er wagte es nicht, mir den Rücken zuzudrehen, bis er schon halb beim Nordturm und damit bei den Schlafräumen der Jungen angelangt war. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits die Arme um die Knie geschlungen, und Tränen rannen mir über die Wangen. Ich fürchtete und schämte mich mehr als je zuvor in meinem Leben, selbst mehr als zu dem Zeitpunkt, als ich ihn gebissen hatte.
Hatte er inzwischen schon begriffen, was damals in der Nacht des Herbstballes wirklich geschehen war und dass ich diejenige gewesen war, die ihn verletzt hatte? Wenn nicht, dann würde er nur zu bald eins und eins zusammenzählen, da war ich mir ganz sicher.
Was konnte ich tun? Es sofort meinen Eltern erzählen? Sie würden fuchsteufelswild werden, und sie würden etwas wegen Lucas unternehmen müssen. Ich wusste nicht, was Vampire mit einem Menschen anstellten, der die Geheimnisse von Evernight gelüftet hatte, aber ich nahm an, dass es nichts Gutes sein würde. Würden Mum und Dad es Mrs. Bethany berichten? Damit schied diese Lösung aus. Ich hätte Patrice wecken und um Rat fragen können, aber vermutlich hätte sie nur mit den Schultern gezuckt, ihre schwarze Augenmaske aus Satin zurechtgerückt und sich wieder schlafen gelegt.
Nun, da das Geheimnis aufgedeckt war, waren alle anderen Leute in Gefahr. Wahrscheinlich würde Lucas niemandem davon erzählen, aus lauter Angst, dass man ihn für verrückt hielte; und selbst wenn er es versuchte, war anzunehmen, dass ihm niemand Glauben schenken würde. Doch das Risiko - diese geringe Möglichkeit, dass wir alle bloßgestellt werden könnten - war schon entsetzlich. Und dafür verantwortlich war mein Fehler.
Es musste
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