Evernight Bd.1 Evernight
zog mir Jeans, Turnschuhe und meinen warmen, schwarzen Kapuzenpullover an. Meine schwarze Strickmütze bedeckte den Kopf und verbarg mein rotes Haar. Ich dachte kurz darüber nach, mir schwarze Schmutzstreifen auf Wangen und Nase zu malen, wie es Einbrecher in Filmen machen, aber ich entschied, dass das doch zu viel des Guten gewesen wäre.
»Suchst du dir einen Happen zu essen?«, murmelte Patrice in ihr Kopfkissen.
»Die Eichhörnchen sind im Winterschlaf. Eine leicht zu bekommende Mahlzeit.«
»Ich sehe mich nur ein bisschen um«, betonte ich, doch Patrice war schon wieder eingeschlafen.
Die Nachtluft war kalt, als ich mich aufs Fensterbrett stemmte, aber meine dunklen Handschuhe und das Sweatshirt schützten mich gegen das Frösteln. Als ich auf einem Ast das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, streckte ich die Arme aus, um höheres Geäst zu fassen zu bekommen und stützte die Füße haltsuchend gegen die Baumrinde. Manchmal ächzte das Holz unter meinem Gewicht, aber nichts brach. Innerhalb weniger Minuten war ich auf dem Dach. Auf dem Dach des niedrigeren Gebäudetrakts, meine ich. Einige Meter vor mir ragte der Südturm in den Nachthimmel empor; und wenn ich den Hals reckte, konnte ich sogar die dunklen Fenster der Wohnung meiner Eltern sehen. Auf der anderen Seite befand sich der riesige Nordturm. Dazwischen erstreckten sich die Ziegel des Hauptgebäudes. Allerdings handelte es sich dabei nicht um eine einzige, flache Oberfläche, sondern eine, die in verschiedenen Winkeln geneigt war und daher rührte, dass die Schule im Laufe der Jahrhunderte gewachsen war; nicht jeder Anbau passte so richtig zum Rest. Es sah ein bisschen wie ein stürmisches Meer aus, mit Wellen, die sich auftürmten und wieder zusammenbrachen, und alle schimmerten blauschwarz im Mondlicht.
Ich biss die Zähne zusammen, kroch vorsichtig die nächstliegende Schräge hinauf und achtete darauf, mich so leise wie möglich zu bewegen. Wenn jemand auf der Suche nach etwas Essbarem war, dann spielte es keine Rolle, ob er mich sah oder nicht. Wenn jemand jedoch aus anderen Gründen hier draußen war, dann wollte ich wenigstens das Überraschungsmoment auf meiner Seite haben.
Ich hatte eine Heidenangst, obwohl ich mir immer wieder sagte, dass es dafür keinen wirklichen Grund gab. Ich wusste, dass ich bei Zusammenstößen gewöhnlich keine gute Figur abgab. Wenn ich herausgefordert wurde, neigte ich dazu, mich zu einer Kugel zusammenrollen zu wollen. Aber irgendjemand musste sich für Raquel einsetzen, und ich hatte den Eindruck, dass ich die Einzige war, die das konnte. Also ignorierte ich die Schmetterlinge in meinem Bauch und machte mir Mut.
Ich versuchte, mir die Anordnung der unter mir liegenden Räume vorzustellen und herauszufinden, welches Zimmer das von Raquel sein müsste. Es lag ein gutes Stück von meinem entfernt den Gang hinunter. Das Zimmer, das ich mit Patrice teilte, lag unter dem Südturm, aber Raquel würde nicht den gleichen Luxus haben. Nein, jemand konnte unmittelbar über ihrem Raum stehen, nur einige Meter von ihrem schlafenden Kopf entfernt.
Als mir die Lage der Räume ganz klar war, machte ich mich auf den Weg. Glücklicherweise gab es hier kein Eis, sodass ich nicht rutschte oder ausglitt, während ich den Giebel erklomm und auf der anderen Seite wieder hinabstieg, manchmal aufrecht gehend, manchmal auf allen vieren kriechend. Während der ganzen Zeit lauschte ich angestrengt auf jedes Geräusch: ein Schritt, ein Wort, ja sogar ein Atmen. Allein der Gedanke an die Gefahr hatte meine dunkleren Instinkte geweckt, und alle meine Sinne waren geschärft. Ich war auf alles vorbereitet - jedenfalls glaubte ich das.
Als ich bis auf wenige Schritte an die Stelle über Raquels Zimmer herangekommen war, hörte ich ein schabendes Geräusch auf dem Dach: ausgedehnt, langsam und wahrscheinlich vorsätzlich. Jemand war hier oben. Und dieser Jemand wollte, dass Raquel es hörte.
Vorsichtig schob ich mich die nächste Schräge hinauf. Dort im Schatten kauerte Erich. Er umklammerte mit einer Hand einen abgebrochenen Ast und zog ihn über die Dachschindeln hin und her.
»Du also«, sagte ich leise. Erich fuhr zusammen und richtete sich auf. Aufgrund seiner Reaktion und der Art, wie er seinen langen Mantel um sich schlang, fragte ich mich, was seine andere Hand getan hatte. Verängstigt und nervös wollte ich schon davonrennen, aber ich schaffte es, diesen Impuls niederzukämpfen. »Jetzt bist du dran.«
»Wir brechen gerade
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