Evolution
sich selbst keinen Namen gegeben, und
Purga gab ihm auch keinen, genauso wenig wie sie sich einen gab. Wenn
sie es aber getan hätte – im Bewusstsein, dass er auf
keinen Fall der Erste in ihrem Leben war –, dann hätte sie
ihn vielleicht Zweiter genannt.
Während Purga schlief, träumte sie. Die Primatengehirne
hatten bereits die Größe und Komplexität, die
für die mentale Säuberung erforderlich waren. Also
träumte sie von Wärme und Dunkelheit, von blitzenden Klauen
und Zähnen und von ihrer Mutter, die die Erinnerung
ausfüllte.
Purga war, wie alle Säugetiere, ein Warmblüter.
Der tierische Metabolismus basiert auf der langsamen
zellulären Verbrennung der Nahrung mit Sauerstoff. Die ersten
Tiere, die das Land besiedelten – nach Luft schnappende Fische,
die aus trocken gefallenen Wasserläufen krochen und ihre
Schwimmblasen als provisorische Lungen nutzten –, hatten sich
noch mit Stoffwechselapparaten behelfen müssen, die für das
Leben im Wasser ausgelegt waren. Diese ersten Landbewohner hatten
noch einen sehr langsamen Metabolismus. Aber der entscheidende
Schritt des ›Landgangs‹ war erfolgreich gewesen; ab diesem
Zeitpunkt bis in alle Zukunft würde jedes Tier –
Säugetiere, Dinosaurier, Krokodile und Vögel, selbst
Schlangen und Wale – auf einer Variante desselben uralten
›Vier-Säulen-Bauplans‹ mit vier Beinen, Rückgrat,
Rippen, Fingern und Zehen beruhen.
Ungefähr zweihundert Millionen Jahre vor Purgas Geburt hatten
jedoch einige Tiere einen neuartigen Metabolismus entwickelt. Es
hatte sich dabei um Raubtiere gehandelt, die wegen ihrer
Spezialisierung die Nahrung schneller verbrennen mussten, um das
Jagdglück zu steigern.
Das hatte eine komplette Neukonstruktion bedeutet. Diese
ehrgeizigen Räuber benötigten mehr Nahrung, eine
höhere Verdauungsgeschwindigkeit und eine effizientere
Entsorgung der Abfallprodukte. All das hatte den Grundumsatz
erhöht – sogar im Ruhezustand –, sodass sie die
Wärme erzeugenden Organe wie Herz, Nieren, Leber und Gehirn
hatten vergrößern müssen. Selbst die Zellfunktionen
hatten sich beschleunigt. Zuletzt war noch eine neue, stabile hohe
Körpertemperatur eingestellt worden.
Die neuen warmblütigen Körper hatten einen unerwarteten
Vorteil. Kaltblüter waren auf Umgebungswärme angewiesen.
Warmblüter aber nicht. Sie vermochten auch in der Kühle der
Nacht Spitzenleistungen zu erbringen, wenn die Kaltblüter ruhen
mussten oder in extremer Hitze, wenn Kaltblüter Schutz suchen
mussten. Und sie waren sogar in der Lage, Kaltblüter wie
Frösche, kleine Reptilien und Insekten in der Morgen- und
Abenddämmerung zu jagen, wo diese Kreaturen langsam und dadurch
verwundbar waren.
Aber sie vermochten nicht die Dinosaurier vom Thron zu
stoßen; dem stand die überlegene Energieeffizienz der
Dinosaurier entgegen.
Ihre Träume wurden jedoch vom wuchtigen Stampfen der
Dinosaurier gestört, die tagsüber an der Oberfläche
ihren Verrichtungen nachgingen. Der Boden erzitterte wie bei einem
Erdbeben, und die Erde bröckelte von den Wänden des Baus
und rieselte um die dösende Familie herum nieder. Es war, als ob
Armeen von Wolkenkratzern über die Welt marschierten.
Aber es gab nichts, was man dagegen zu tun vermochte. Für
Purga waren die Dinosaurier eine Naturgewalt, die sich ihrem Einfluss
genauso entzog wie das Wetter. In dieser großen,
gefährlichen Welt war der Bau ihr Zuhause.
Die dicke Erdschicht schützte die Primaten vor der Hitze des
Tages und schirmte die noch nackten Jungen von der Kühle der
Nacht ab: Mutter Erde selbst schützte Purga vor dem
Dinosaurier-Wetter.
Und doch hielt sich im Hinterkopf eine vage Erinnerung, eine
Ahnung, dass dies nicht ihr erstes Zuhause, nicht ihre erste Familie
war – eine unterschwellige Warnung, dass sie auch dieses
Glück in einem Moment aus Licht und blitzenden Klauen und
Zähnen verlieren konnte.
Als die Erde sich weiterdrehte, die Luft kühler wurde und die
Dinosaurier in ihre nächtliche Lethargie verfielen, tat sich zu
ihren Füßen der Boden auf. Die Kreaturen der Nacht kamen
zum Vorschein: Insekten, Amphibien – und unzählige kleine
Säugetiere, die wie eine Flut um die Säulenbeine der
Dinosaurier anschwollen.
In dieser Nacht gingen Purga und ihr neuer Gefährte zusammen
auf die Pirsch. Purga, die etwas älter und erfahrener war,
übernahm die Führung. Im Abstand von ein paar Zentimetern
wanderten sie den flachen Abhang zum See hinunter, wobei sie
ständig sicherten und
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