Evolution
Aber sie war hungrig und verwirrt und litt unter der
Einsamkeit.
Sie erreichte die Anhöhe, die sie tags zuvor überquert
hatte und ließ den Blick über eine weite, sanft gewellte
Ebene schweifen, die sich bis zu den im Westen aufragenden,
rauchenden Bergen erstreckte. Einst hatte das riesige amerikanische
Binnenmeer diesen Ort überflutet. Doch nun hatte das Meer sich
zurückgezogen und eine durch große Seen und Feuchtgebiete
geprägte Ebene hinterlassen. Es wimmelte hier nur so von Leben.
Riesige Krokodile kreuzten wie bizarre Unterseeboote in den seichten
Gewässern. Manche hatten Vögel auf dem Rücken. Es gab
Vogelschwärme und vogelartige pelzige Pterosaurier; manche
bauten sogar große Flöße, um die Nester zu
versorgen, die geschützt vor den landlebenden Räubern in
der Mitte der Seen lagen.
Und es gab Dinosaurier, so weit das Auge reichte.
Herden von Entenschnäbeln, Ankylosauriern und ein paar
Gruppen langsamer, schwerfälliger Triceratops hatten sich am
Wasser versammelt, spielten und kämpften. Lurche liefen und
Frösche hüpften ihnen zwischen den Füßen herum,
außerdem Echsen wie Iguanas und Geckos und viele kleine,
gefräßige Saurier. Die Luft wurde vom Flügelschlag
und den Rufen von Pterosauriern und Vögeln erfüllt. Am Rand
des Waldes sah man Räuber patrouillieren, die die wogenden
Herden observierten.
Die Hadrosaurier, die Entenschnabel-Dinosaurier, waren die am
weitesten verbreiteten Pflanzenfresser dieses Zeitalters. Obwohl sie
größer waren als spätere
Säugetier-Äquivalente wie Büffel oder Antilopen,
gingen sie auf zwei Beinen wie zu groß geratene Strauße
– mit langen Schritten und wackelnden Köpfen. Die Herden
wurden von Männchen angeführt, die sich durch große
Kämme auf Nase und Stirn auszeichneten. Die Kämme dienten
als natürliche Trompeten. Sie vermochten Töne
hervorzubringen, die so tief waren wie das Unterregister einer Orgel.
Die Stimmen der Entenschnäbel schallten wie Nebelhörner
über die dunstige Ebene.
Im Vordergrund durchquerte eine Herde Anatotitanen die Flutebene.
Es war ein wahrer Geleitzug aus Fleisch. Diese gewaltigen Kreaturen
wirkten mit den massiven Hinterbeinen – die größer
waren als ein ausgewachsener Mensch – und den vergleichsweise
dürren Vorderläufen irgendwie unstimmig. Dazu schleppten
sie lange dicke, konische Schwänze nach. Die Luft war von ihren
Geräuschen erfüllt: vom Rumoren der großen Mägen
der Pflanzenfresser und des noch tieferen Grollens der Stimmen, mit
denen sie sich verständigten. Diese Laute reichten bis in den
Infraschallbereich hinein und wären für menschliche Ohren
unhörbar gewesen.
Die Anatotitanen sammelten sich in einem Zikadenhain. Die
Blätter der Zikaden waren dick und zäh, aber die jungen
Triebe, die von einer Lage älterer Blätter verdeckt wurden,
waren grün und saftig. Also stellten die Anatotitanen sich auf
die stämmigen Hinterbeine und fraßen die frischen Triebe
ab. Als sie mit den großen Füßen ins Farndickicht
traten, stiegen Wolken von Insekten empor. Die Phalanx der Titanen
ließ die Zikaden ruiniert zurück. Obwohl die Tiere weit
entfernt von hier Samen für zukünftige Wälder
verstreuten, würde es lang dauern, bis die Vegetation sich vom
Kahlschlag erholt hatte, den sie anrichteten.
Die Geräuschkulisse war beeindruckend: das nebelhornartige
Trompeten der Entenschnäbel, das Bellen der gepanzerten
Dinosaurier, das Kreischen der Vögel, das lederartige Flappen
der großen Pterosaurier-Schwärme. Und das alles wurde vom
durchdringenden, unmodulierten Brüllen eines
Tyrannosaurus-Weibchens überlagert, dem ›Platzhirsch‹:
Alle Tiere waren hier in ihrem Revier, und das machte sie ihnen und
rivalisierenden Tyrannosauriern auch unmissverständlich
klar.
Die Szenerie hätte einen Menschen vielleicht an Afrika
erinnert. Obwohl diese großen Pflanzenfresser die Rolle von
Antilopen, Elefanten, Nilpferden, Büffeln und Räubern wie
Löwen, Leoparden und Hyänen einnahmen, waren diese Tiere
enger mit Vögeln verwandt als mit Säugetieren. Alle
Verrichtungen erledigten sie mit slapstickartig schnellen Bewegungen,
die durch den hohen Sauerstoffgehalt der Luft ermöglicht wurden.
Die kleinen, leichtfüßigen Dinosaurier, die durchs
Unterholz rannten oder pirschten, hätten freilich surreal
angemutet. Im Zeitalter der Menschen gab es nichts, was diesen
zweibeinigen Läufern geglichen hätte. Und im Afrika des
einundzwanzigsten Jahrhunderts wäre der Anblick von zwei sich
paarenden
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