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Evolution

Evolution

Titel: Evolution Kostenlos Bücher Online Lesen
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getroffen. Er griff mit beiden Händen in
den Honig und leckte ihn hastig ab, wobei er zugleich Ausschau nach
den anderen hielt. Als seine Mutter den Boden erreichte, hatte er den
Honig bereits verspeist und sich die Schnauze abgewischt.
    Das Junge, Links, klammerte sich noch immer an ihren Bauch. Sie
scharrte auf dem Boden und hatte den mit Fett gefüllten Schwanz
nach hinten gestreckt. Ihre Silhouette zeichnete sich gegen die
hellen Lichtbahnen ab, die die oberen Etagen des Waldes durchstachen.
Noth machte sich einen Spaß daraus, nach dem Honig zu greifen,
doch seine Mutter stieß ihn weg und machte sich selbst
darüber her.
    Inzwischen war auch Noths Vater aufgetaucht und wollte an dem
Schmaus teilhaben, doch seine Gefährtin drehte ihm den
Rücken zu. Und dann kamen zwei Tanten von Noth, Schwestern
seiner Mutter. Sie schlugen sich sofort auf die Seite ihrer Schwester
und vertrieben Noths Vater mit Gekreisch, gebleckten Zähnen und
Blättern, mit denen sie ihn bewarfen. Eine riss ihm sogar ein
Stück Honigwabe aus der Hand. Noths Vater setzte sich zwar zur
Wehr, aber wie die meisten Männchen war er kleiner als die
Weibchen und stand auf verlorenem Posten.
    So war das eben. Die Weibchen bildeten das Zentrum der
Notharctus-Gesellschaft. Schwestern, Mütter, Tanten und Nichten
schlossen sich auf Lebenszeit zu mächtigen Clans zusammen und
ließen die Männer außen vor. Das war jedoch eine
archaische Verhaltensweise: Die Dominanz der Weibchen über die
Männchen und die Angewohnheit, dass Männchen und Weibchen
eine Paarbildung eingingen, die auch nach der Paarung Bestand hatte,
war eher bei nachtaktiven Spezies anzutreffen als bei solchen, die im
Licht zu leben vermochten. Dieses starke Matriarchat
gewährleistete, dass die Schwestern vor jedem Männchen ein
Anrecht auf die beste Nahrung hatten.
    Noth fügte sich brav in seinen Ausschluss. Schließlich
hatte er noch den Nachgeschmack des verbotenen Honigs im Mund. Er
stahl sich davon, um woanders Nahrung zu suchen.
    Purga und Plesi hatten ein isoliertes Leben geführt,
normalerweise nur als Weibchen mit Jungen oder als Paar zur
Paarungszeit. Einzeljagd war eine bessere Strategie für
nachtaktive Geschöpfe; als Teil einer lauten Gruppe hätte
man sich zu leicht den Jägern der Nacht verraten, die ihrer
Beute im Hinterhalt auflauerten.
    Für tagaktive Tiere war Gruppenbildung jedoch die bessere
Alternative, denn viele Augen und Ohren nahmen Angreifer eher wahr.
Die Notharctus hatten Alarmrufe und Gerüche entwickelt, um sich
vor verschiedenen Räubern zu warnen -Raubvögel,
Boden-Räuber und Schlangen –, die jeweils eine andere
Verteidigungsstrategie erforderten. Und als Teil einer Gruppe bestand
immer die Chance, dass der Räuber den anderen nahm und nicht
einen selbst. Es war ein kaltblütiges Glücksspiel, das sich
jedoch oft genug auszahlte, um übernommen zu werden.
    Aber das Gruppenleben hatte auch Nachteile. Vor allem den, dass
bei großen Gruppen die Konkurrenz um Nahrung zunahm. Um diese
Konkurrenz aufzuheben, musste die soziale Komplexität zunehmen,
woraufhin die Adapiden wiederum größere Gehirne entwickelt
hatten, um diese Komplexität zu beherrschen. Daraufhin waren sie
natürlich gezwungen, die Effizienz bei der Nahrungssuche zu
steigern, um diesen großen Gehirnen Brennstoff
zuzuführen.
    Das war der Weg in die Zukunft. Mit zunehmender Komplexität
der Primaten-Gesellschaften entstand eine Art kognitiven
Wettrüstens, wobei durch zunehmende soziale Komplikationen
wiederum die Intelligenz stärker ausgeprägt wurde.
    Aber so intelligent war Noth auch wieder nicht. Als er den
Honig fand, hatte Noth eine einfache Verhaltensregel befolgt: Meldung machen, wenn die Großen in der Nähe sind. Keine
Meldung machen, wenn sie nicht da sind. Durch diese Regel hatte
Noth die Chance, mit einem Maximum an Nahrung und einem Minimum an
Schlägen davonzukommen. Das klappte zwar nicht immer, aber doch
so oft, dass die Anwendung dieser Regel sich lohnte.
    Es sah so aus, als ob er bezüglich des Honigs gelogen hatte.
Aber Noth war gar nicht fähig, bewusst zu lügen – also
eine falsche Maxime ins Bewusstsein eines anderen zu pflanzen –,
denn er wusste nicht, dass andere überhaupt eine Maxime hatten.
Ganz zu schweigen davon, dass ihre Maximen sich von seinen
unterschieden oder dass seine Handlungen diese Maximen zu prägen
vermochten. Das Spiel, das gern von Menschenbabys gespielt wurde
– um dich zu verstecken, musst du dir nur die Augen zuhalten;
wenn du sie

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