Evolution
nicht siehst, sehen sie dich auch nicht –,
hätte bei ihm jedes Mal geklappt.
Noth war eins der intelligentesten Geschöpfe auf dem
Planeten. Aber seine Intelligenz war spezialisiert. Er war viel
intelligenter, was Probleme seiner Artgenossen betraf – wo sie
waren, ihr Bedrohungs- oder Hilfspotential und die Hierarchien, die
sie bildeten –, als sonst jemand in seiner Umgebung.
Andererseits war er nicht fähig, anhand von Schlangenspuren zu
abstrahieren, dass er über eine Schlange stolperte. Obwohl sein
Verhalten durchaus komplex und subtil wirkte, befolgte er Regeln, die
so starr waren, als ob sie einem Roboter einprogrammiert worden
wären.
Und doch verbrachten die Notharctus den Großteil ihres
Lebens als Einzeljäger, wie Purga es getan hatte. Das sah man
schon an der Art, wie sie sich bewegten: Sie waren sich der anderen
bewusst und gingen sich je nach Bedarf aus dem Weg oder drängten
sich zum Schutz zusammen, aber sie bewegten sich nicht als Einheit. Als ob sie von Natur aus Einzelgänger gewesen
wären, die der Not gehorchend mit anderen kooperierten, sich
dabei aber eingeengt fühlten.
Als Noth über den Waldboden streifte, huschte ein Rudel
kleiner dunkler Geschöpfe vorbei. Sie hatten rattenartige
Schneidezähne und muteten im Vergleich zu Noth und seiner
Familie wie Ungeziefer an. Das schwarz-weiße Fell war struppig
und schmutzig. Diese kleinen Primaten waren Plesiapiden und fast
identisch mit Purga, die vor bereits vierzehn Millionen Jahren
gestorben war. Sie waren ein Relikt der Vergangenheit.
Ein Plesi kam Noth zu nah und beschnüffelte ihn in seiner
relativen Blindheit. Noth reagierte, indem er es mit einem Samen
bespie; der Samen traf die Kreatur im Auge, und sie zuckte
zusammen.
Ein geschmeidiger, schlanker Körper wie der einer Hyäne
brach aus dem Schatten der Bäume. Es handelte sich um ein
Mesonychid.
Noth und seine Familie räumten schnell das Feld.
Das Plesi erstarrte. Aber auf dem offenen Waldboden saß es
wie auf dem Präsentierteller.
Das Mesonychid machte einen Satz. Das Plesi schlug einen Haken und
rollte sich zischend herum. Aber die Zähne des Mesos hatten ihm
schon ein Stück aus dem Hinterlauf gerissen. Und nun kamen
weitere Angehörige des Meso-Rudels herbei. Sie hatten Blut
gerochen.
Das Mesonychid war eine Art der Condylarthen, eine Tier-Gruppe,
die mit den Vorfahren der Huftiere verwandt waren. Das Meso war nicht
aufs Töten spezialisiert und auch kein ausschließlicher
Fleischfresser, aber wie Bären und Vielfraße war es ein
Opportunist. Die Condylarthen starben zehn Millionen Jahre vor dem
Entstehen der Menschen aus. Fürs Erste waren sie jedoch die
stärksten Räuber des Welten-Walds.
Die anderen Bewohner des Waldbodens reagierten in der ihnen
eigenen Art und Weise. Die lorisartigen Adapiden hatten auf dem
Rücken einen Hornhaut-Schild über knochigen Höckern,
unter den sie nun den Kopf zogen. Das große dumme Barylambda
kam zu dem Schluss, dass auch ein Rudel dieser kleinen Jäger
keine Gefahr darstellte; wie die Hyänen späterer Zeitalter
waren die Mesos hauptsächlich Aasfresser und griffen nur selten
Tiere an, die größer waren als sie selbst. Die
Taeniodonten indes hielten Vorsicht für geboten; sie trotteten
schwerfällig davon und zeigten die langen Zähne.
Das Plesi setzte sich derweil zur Wehr und brachte den Angreifern
Kratz- und Bisswunden bei. Ein Meso winselte; die Sehnen des rechten
Hinterlaufs waren durchtrennt und Blut tropfte aus der Wunde. Doch
schließlich unterlag das Plesi der Übermacht. Die Mesos
bildeten einen losen Kreis um ihr Opfer, und dann drängten die
schlanken Leiber sich mit wedelnden Schwänzen um die Beute wie
Fliegen um eine offene Wunde. Der Geruch von Blut und der Gestank von
in Panik abgesondertem Kot und Mageninhalt waren zu viel für
Noths empfindliche Nase.
Obwohl die altertümlichen Plesiapiden gelernt hatten, wie ein
Opossum Früchte zu schälen oder vom Mark der Bäume zu
leben, waren sie primär Insektenfresser geblieben. Doch nun
bekamen sie Konkurrenz von anderen Insektenfressern, den Vorfahren
der Igel und Mäuse – und von ihren eigenen Nachfahren wie
den Notharctus. In Nordamerika waren die Plesis schon fast
ausgestorben und überlebten nur noch in Randgebieten wie diesem
nur bedingt bewohnbaren Wald in der Polarregion. Jedoch waren die
endlosen Tage ungünstig für Körper und
Lebensgewohnheiten, die sich in den Nächten der Kreidezeit
ausgeprägt hatten. Bald würde auch das letzte Plesi
verschwunden
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