Evolution
sein.
Noth war hoch oben unter den kathedralenartigen Wipfeln und sah
die Familie mit geschmeidigen Bewegungen zu sich heraufklettern. Doch
irgendetwas störte ihn: eine Änderung der
Lichtverhältnisse, eine plötzliche Kälte. Als Wolken
sich vor die Sonne schoben, zerbrachen die Gitterstreben aus Licht,
die den Wald durchzogen. Noth fror, und das Fell sträubte sich.
Und dann regnete es: Schwere, dicke Tropfen prasselten auf die
großen Blätter und zerplatzten wie Geschosse auf dem
lehmigen Boden.
Es lag am einsetzenden Regen und dem überwältigenden
Gestank des blutigen Gemetzels am Boden, weshalb Noth die
Annäherung von Solo nicht bemerkte.
Solo hatte sich in einem schattigen Abschnitt versteckt, und zwar
so, dass er Gegenwind hatte. So vermochte die Sippe der Notharctus,
die sich in (trügerische) Sicherheit brachte, nicht seine
Witterung aufzunehmen.
Und er sah Noths Mutter mit dem Kleinen.
Sie war ein fruchtbares, gesundes Weibchen: Das war es, was die
Anwesenheit des Jungen ihm über sie sagte. Aber sie hatte einen
Gefährten bei sich, und weil sie schon ein Kind hatte, war es
unwahrscheinlich, dass sie in dieser Paarungssaison noch einmal
heiß werden würde. Allerdings ließ Solo sich davon
nicht abhalten. Er wartete, bis Noths Familie sich auf einem Ast in
Sicherheit gebracht und wieder beruhigt hatte.
Solo war drei Jahre alt und ein geschlechtsreifes starkes
Notharctus-Männchen. Und er fiel auch irgendwie aus dem
Rahmen.
Die meisten Männchen durchstreiften in Grüppchen den
Wald und suchten nach den großen und sesshafteren Gruppen von
Weibchen, mit denen sie sich zu paaren hofften. Aber nicht Solo. Solo
zog es vor, allein auf die Pirsch zu gehen. Er war größer
und stärker als fast alle Weibchen, denen er auf seinen
Streifzügen durch den polaren Wald begegnet war. Auch in dieser
Hinsicht war Solo untypisch; das durchschnittliche Männchen war
nämlich kleiner als das durchschnittliche Weibchen.
Und er hatte gelernt, sich mit dieser Stärke zu holen, was er
wollte.
Mit einem geschmeidigen Schwung ließ Solo sich auf den Ast
fallen und baute sich vor Noths Mutter auf. Er schien nur mit
Mühe das Gleichgewicht zu halten – die Hinterläufe
waren vergleichsweise kräftig, die Vorderarme kurz und
dünn, und den langen Schwanz hatte er aufgestellt, sodass er ihm
wie ein Haken über den Kopf ragte. Aber er war groß,
bedrohlich ruhig und einschüchternd.
Noths Mutter roch den großen Fremden: nicht verwandt. Sie
geriet in Panik, zischte und schob Links hinter sich.
Noths Vater trat auf den Plan. Er richtete sich auf den
Hinterbeinen auf und stellte sich dem Eindringling. Mit schnellen,
ruckartigen Bewegungen rieb er die Geschlechts-Drüsen an den
umliegenden Blättern und strich mit dem Schwanz über die
Unterarme, sodass die Knochensporne über den
Handgelenks-Drüsen durch den buschigen Schwanz kämmten und
ihn mit seinem Geruch imprägnierten. Dann wirbelte er den
stinkenden Schwanz über dem Kopf. In der vom Geruch dominierten
Welt der Notharctus war das eine machtvolle Demonstration. Geh
weg! Das ist mein Platz. Das ist meine Sippe, Junge. Geh weg!
Das Verhalten des Vaters enthielt keine emotionale Komponente. Der
einzige Zweck seiner ›Vaterschaft‹ war die Zeugung gesunder
Nachkommen und deren Schutz, damit sie bis zur Geschlechtsreife
überlebten. Die Bereitschaft, sich dem Eindringling
entgegenzustellen, entsprang allein dem selbstsüchtigen
Bestreben, sein Erbe zu erhalten.
Normalerweise wäre dieses Spiel ›Abschreckung durch
Gestank‹ weitergegangen, bis eins der beiden Männchen sich
ohne Körperkontakt zurückgezogen hätte. Doch auch in
dieser Hinsicht wich Solo von der Norm ab. Er verzichtete auf eine
entsprechende ›Gegendarstellung‹ und beobachtete das
hektische Gebaren des anderen nur mit kaltem Blick.
Entnervt durch die unheimliche Ruhe des Neuankömmlings gab
Noths Vater schließlich auf. Die Duftdrüsen trockneten
ein, und er ließ den Schwanz hängen.
Da schlug Solo zu.
Mit gefletschten Zähnen stürzte er sich auf Noths Vater
und prallte gegen seine Brust. Noths Vater kippte quiekend um. Solo
ging auf alle viere hinunter, ließ sich auf ihn fallen und biss
ihm durchs Fell in die Brust. Noths Vater schrie auf und verschwand.
Er war nur leicht verletzt, aber seine Moral war gebrochen.
Nun wandte Solo sich den Weibchen zu. Die Tanten hätten Solo
leicht abzuwehren vermocht, wenn sie mit vereinten Kräften gegen
ihn vorgegangen wären. Aber sie zogen
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