Evolution
sich vor Solo zurück.
Seine Attacke hatte sie genauso verstört wie sein Opfer. So
etwas hatten sie noch nie erlebt. Sie waren auch alle Mütter und
dachten sofort an die Jungen, die sie in den oberen Ästen
zurückgelassen hatten.
Solo ignorierte sie ebenfalls. Mit den geschmeidigen Bewegungen
eines Fleischfressers näherte er sich Noths Mutter, seinem
Hauptziel.
Sie bleckte zischend die Zähne und trat ihn sogar mit den
kräftigen Hinterbeinen. Aber er wehrte ihre Schläge
mühelos ab, durchbrach ihre Abwehr – und entriss ihr das
verwirrte Junge. Er biss es schnell in den Hals und zerfleischte es,
bis er die Luftröhre aufgerissen hatte. Das Kind hauchte sein
Leben aus. Er ließ den zuckenden Kadaver auf den Waldboden
fallen, wo sich durch den Geruch des frischen Bluts angelockte
Mesonychiden mit unheimlichem Bellen, das so ganz anders klang als
das eines Hunds, einfanden. Mit blutiger Schnauze und Händen
wandte Solo sich Noths Mutter zu. Sie war natürlich noch nicht
wieder fruchtbar, vielleicht erst in ein paar Wochen, aber er konnte
sie schon einmal mit seinem Geruch markieren, um den Besitzanspruch
anzumelden und die Ambitionen anderer Männchen zu vereiteln.
Solo verübte aber keine bewussten Grausamkeiten. Indem er die
Jungen von Noths Mutter nämlich tötete, würde sie
vielleicht bis zum Ende des Sommers wieder heiß werden. Und
wenn Solo sie dann deckte, würde er von ihr Nachwuchs bekommen.
Somit war der Kindermord also eine Gewinn bringende Taktik für
Solo.
Jedoch wäre Solos brutale Strategie nicht überall von
Erfolg gekrönt gewesen. Die Notharctus-Männchen waren nicht
als Kämpfer ausgestattet. Ihnen fehlten nämlich die
Reißzähne, mit denen spätere Spezies ihren Rivalen
Wunden schlagen würden. Zumal dieser Polarwald eine territoriale
Randlage hatte, wo tödliche Kämpfe buchstäblich eine
Energieverschwendung und Vergeudung knapper Ressourcen gewesen
wären – weshalb sich auch die Gestank-Duelle entwickelt
hatten. Aber für Solo, die Ausnahme, war es eine Strategie, die
sich hundertfach bewährt und ihm viele Gefährtinnen
beschert hatte – und viele Nachkommen, die im ganzen Wald
verstreut waren und in deren Adern Solos Blut floss.
Diesmal hatte er sich jedoch verkalkuliert.
Noths Mutter, mit dem Geruch des Killers markiert, schaute hinab
in die grüne Leere unter sich. Sie hatte ihr Baby verloren; ein
Verlust, wie auch Purga, ihre Urahnin, ihn einst erlitten hatte. Weil
sie deutlich intelligenter war als Purga, verspürte sie aber
auch den Schmerz umso stärker.
Sie wurde von Schwärze erfüllt. Mit aufgerissenem Mund
und wirbelnden Gliedmaßen stürzte sie sich auf Solo. Er
wich erschrocken zurück.
Sie verfehlte ihn. Und stürzte ab.
Noth sah, wie seine Mutter in die Grube fiel, in die zuvor seine
kleine Schwester gefallen war. Ihr zuckender Leib wurde sofort unter
den umherwuselnden Körpern der Mesos begraben.
Noth war ein paar Wochen nach der Geburt entwöhnt worden.
Bald wäre eh die Zeit gekommen, da er sich von der Sippe
entfernt und eigene Wege gegangen wäre. Die Bindung zu seiner
Mutter war nur noch schwach. Und doch verspürte er einen so
starken Schmerz, als ob man ihn von der Mutterbrust weggerissen
hätte.
Und der Regen wurde immer heftiger.
Noth kroch zitternd durchs Laub. Es war fast windstill, sodass der
Regen in schweren Tropfen auf den Körper und die großen
Blätter der Bäume prasselte.
Er folgte den noch vorhandenen Duftspuren seiner Mutter und
stieß auf seine kleine Schwester. Sie klammerte sich noch immer
an den Baum, wo ihre Mutter sie zurückgelassen hatte – und
wo sie wahrscheinlich ausgeharrt hätte, bis sie verhungert
wäre. Noth roch ihr feuchtes Fell. Er schmiegte sich an sie,
schlang die Arme um sie und schützte den kleinen zitternden
Körper vorm Regen.
Er wollte bei ihr bleiben. Sie roch nach Familie und teilte einen
Großteil seines genetischen Erbes. Deshalb hatte er einen
Anteil am Nachwuchs, den sie eines Tages vielleicht gebar.
Es regnete eine ganze Nacht und einen ganzen Tag, derweil die
Sonne ihre sinnlosen Kreise am Himmel zog. Der Waldboden verwandelte
sich in Matsch; schimmernde Pfützen, auf denen Pflanzenreste
trieben, bedeckten den Boden und überschwemmten abgenagte und
verstreute Knochen.
Und der unaufhörliche Regen wusch auch die letzten Reste der
Geruchsmarkierungen von Noths Sippe von den Bäumen. Noth und
seine Schwester waren verloren.
II
Während der endlose Tag sich dahin zog und die Sonne
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