Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Evolution

Evolution

Titel: Evolution Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
Zenit erreicht. Dennoch
stand sie tief am Himmel. Säulen aus trübem, grün
gefiltertem Licht stachen durch die Bäume und wurden vom dichten
warmen Dunst gestreut, der aus dem dampfenden Kompost am Boden stieg.
Die Baumstämme warfen Schatten auf den Waldboden.
    Das war Ellesmere, der nördlichste Teil Nordamerikas. Die
Sommersonne ging niemals unter. Überm Horizont hängend zog
sie endlose Kreise und tauchte die breiten Blätter der Koniferen
in ihr Licht. Dies war ein Ort, an dem die Schatten immer lang waren,
sogar im Hochsommer. Der um den Pol der Erde sich ziehende Wald hatte
die Aura einer riesigen Baum-Kathedrale, als ob die Blätter
Splitter von Kirchenfenstern wären.
    Und überall hallten die Stimmen der Adapiden.
     
    Durch den Gesang ermutigt kletterten die Adapiden die Äste
zum Boden hinab.
    Noth ernährte sich zwar hauptsächlich von Früchten.
Doch nun stieß er auf einen dicken, juwelenartigen Käfer.
Der schöne, blau-grün schillernde Panzer knackte, als er
hineinbiss. Unterwegs folgte er den Duftmarken seiner Art: Ich bin
hier entlang gekommen. Dieser Weg ist sicher… Hier habe ich
Gefahr gesehen. Zähne! Zähne!… Ich gehöre zu
dieser Sippe. Bruder, nimm diesen Weg. Fremder, halte dich
fern…Ich bin ein Weibchen. Folge dieser Spur, um mich zu
finden… Bei dieser letzten Botschaft verspürte Noth ein
seltsames Ziehen in der Lendengegend. Er hatte Duftdrüsen an den
Handgelenken und in den Achselhöhlen. Mit den Handgelenken fuhr
er sich durch die Achselhöhlen und strich dann mit den
Unterarmen über den Baumstamm. Mit den Knochenspornen an den
Handgelenken ›ritzte‹ er den Duft ein und hinterließ
eine unverwechselbare gekrümmte Markierung in der Rinde. Die
weibliche Duftmarke war schon alt, denn die kurze Paarungszeit war
längst vorbei. Aber der Instinkt sagte ihm, die Markierung mit
seiner eigenen ›Multimedia‹-Signatur zu überschreiben,
damit kein anderes Männchen auf die Fährte des Weibchens
gelockt wurde.
    Vierzehn Millionen Jahre nach dem Kometen wies Noth noch immer
körperliche Merkmale der nachtaktiven Vorfahren auf, wozu auch
die Duftmarkierung gehörte. Er hatte noch keine Zehennägel
wie ein Affe, sondern Krallen wie ein Lemure. Er hatte große,
aufmerksame Augen und wie Purga Schnurrhaare, um den Weg zu ertasten.
Außerdem besaß er ein ausgezeichnetes Gehör, einen
guten Geruchssinn und Ohren, die er wie Radarschüsseln
schwenkte. Jedoch hatten Noths Augen trotz der Größe und
guten Nachtsichtfähigkeit nicht mehr die optimale Anpassung
nachtaktiver Tiere: ein Tapetum, eine gelbe reflektierende Schicht im
Auge. Die Nase war immer noch empfindlich, aber trocken. Die pelzige
und bewegliche Oberlippe verlieh dem Gesicht eine größere
Ausdrucksstärke als den früheren Adapiden-Spezies. Und die
affenartigen Zähne hatten nicht mehr den Kamm-Zahn – einen
speziellen Zahn für die Fellpflege – der Vorfahren.
    Wie jede Spezies in der langen evolutionären Linie, die von
Purga in die unvorstellbare Zukunft geführt hatte, war auch
Noths Spezies eine Art im Übergang – sie war mit den
Relikten der Vergangenheit beladen und leuchtete zugleich im
Versprechen der Zukunft.
    Aber sein Körper und Geist waren gesund und perfekt an die
Welt angepasst. Und heute war er so glücklich, wie es ihm nur
möglich war.
    In den Wipfeln über ihm kümmerte Noths Mutter sich um
eins ihrer Jungen.
    Sie stellte sich ihre beiden überlebenden Töchter als
Links und Rechts vor, denn die eine bevorzugte die Milch aus der
Zitzenreihe an der linken Seite; und die andere – die kleiner
und schwächer war – musste sich mit der rechten
begnügen. Die Notharctus hatten in der Regel große
Würfe, und die Mütter hatten viele Zitzen, um den Wurf zu
säugen. Noths Mutter hatte Vierlinge geboren. Ein Junges war
jedoch von einem Vogel ergriffen worden, und ein anderes schwaches
Baby hatte sich eine Infektion zugezogen und war daran gestorben.
Seine Mutter hatte es bald vergessen.
    Nun hob sie Rechts auf und schob sie gegen den Baum, an dem das
Junge sich festhielt. Das solcherart ›geparkte‹ Baby,
dessen braunes Fell mit dem Hintergrund der Baumrinde verschmolz,
würde hier warten, bis seine Mutter zurückkam und es
säugte. Es vermochte stundenlang reglos auszuharren.
    Das war eine Art des Schutzes. Die Notharctus lebten tief genug im
Wald, um vor herabstoßenden Raubvögeln sicher zu sein,
aber das Junge war von den hiesigen, am Boden lebenden Räubern
bedroht – hauptsächlich von den

Weitere Kostenlose Bücher