Ewige Nacht
es noch 360 Meter. Wahrscheinlich der beschwerlichste Abschnitt des Weges.
Ungeduldig stand Timo auf. Sie befanden sich inmitten eines üppigen Paradieses. Die verletzte, gewalttätige Seite des Kongo schien hier in weiter Ferne zu sein. Aus dem feuchten Wald stieg Dunst auf und hüllte die Bäume ein, aber über den Baumkronen öffnete sich der Himmel. Timo fand es schade, diese Bilder von Afrika nicht mit Soile und Aaro teilen zu können.
Er stellte sich vor, wie Soile dem Jungen die Geschichte der vulkanischen Formation erklären würde, die zugleich die Geschichte des gesamten Planeten war. Er hörte förmlich, wie Soile auf Aaros endlose Fragen über den Urknall und die Erweiterung des Universums antwortete. Alle Kinder stellten gern Fragen, aber Aaro war darin schon immer eine Klasse für sich gewesen. Timo überließ die Antworten gern seiner Frau, die unermüdlich und voller Begeisterung von den Rätseln der Physik, der Chemie, der Bautechnik, der Zellbiologie und unzähligen anderen naturwissenschaftlichen Themen erzählen konnte. Timos Spezialgebiet war die Geschichte, aber dafür interessierte sich Aaro so gut wie nicht.
Er steckte das Navigationsgerät ein und machte sich bereit, den Weg fortzusetzen. Aus einer kleinen Spraydose sprühte er sich ein Mittel auf die Haut, das die Malaria übertragenden Anopheles-Mücken fern halten sollte.
Durch die Feuchtigkeit dufteten die Erde und die Pflanzen des Bergwaldes. Timo sah auf die Uhr. An einem solche Ort verlor man das Zeitgefühl. Die Zeit selbst schien hier keine Bedeutung zu haben, nirgendwo war zu erkennen, in welchem Zeitalter man sich befand, mühelos konnte man sich donnernde Vulkanausbrüche vorstellen, oder Urahnen, die gleich nebenan vor ihrer heimischen Höhle kauerten.
Timo trat vor den Höhleneingang wenige Meter vor ihm. Weiter konnte er ohne Begleitung nicht gehen, obwohl die Neugier in ihm brannte. Er lockerte seinen Gürtel und wunderte sich, wo die Führerin blieb.
Dann suchte er in seinem Rucksack nach dem Telefon. Es war weg.
Plötzlich erschrak er. Die Führerin war unbemerkt hinter ihm aufgetaucht. »Ich frage mich, wo ich mein Telefon hingetan habe.« Er wühlte weiter im Rucksack, immer hektischer, aber vergebens. Das Telefon war zwischen den Kleidungsstücken nicht zu finden. Zwangsläufig fiel sein Blick auf den Korb, den die Führerin auf dem Rücken trug.
»Wozu brauchen Sie es?«, fragte sie.
Die einzige Erklärung für das Verschwinden des Telefons war, dass es jemand aus dem Rucksack genommen hatte. Und die einzige Person, die das außer ihm hätte tun können, war die Frau. Gelegenheit dazu hatte es während des Tages genug gegeben, denn er hatte den Rucksack keinen einzigen Moment zu lange aufbehalten. Warum aber hätte sie das Handy an sich nehmen sollen? Diese Frau war keine gemeine Diebin. Oder folgte ihnen jemand?
Timo überlegte, ob er das Gepäck der Führerin durchsuchen sollte. Noch nicht, erst am Ende. Beleidige nicht das Krokodil, wenn du den Fluss noch nicht durchquert hast. Jetzt wollte er so schnell wie möglich in die Höhle, alles hinter sich bringen – und dann zurück nach Brüssel. Er mochte weder den Kongo noch den Mwanga, und die Führerin mochte er auch nicht.
Er nahm das Navigationsgerät und einen gewöhnlichen Kompass zur Hand und sah sich genau Richtung und Entfernung des Ziels an. In der Höhle würde der Navigator nicht funktionieren, da unter der Erde keine Satellitenverbindung zustande kam. Timo befestigte den kleinen digitalen Schrittzähler am Gürtel, der relativ genau die zurückgelegte Strecke anzeigte.
Dann fiel sein Blick auf einen Baum, der ihm bekannt vorkam. »Ist das ein Gummibaum?«
Die Führerin blieb stehen. »Was wissen Sie über Gummibäume?«
»Ich habe Bilder gesehen«, sagte Timo vorsichtig. Der Tonfall der Führerin gefiel ihm nicht.
»Ich habe Gummi gesammelt.«
Dieser eine Satz ließ die Frau für Timo in völlig neuem Licht erscheinen. Er machte eine schnelle Rechnung: Sie mochte gut über 70 sein, war also in den 20er Jahren geboren worden. In ihrer Jugend war unter belgischem Kommando noch mit vollem Einsatz Gummi gesammelt worden, obwohl kultivierter Gummi nach und nach den Naturgummi verdrängte.
»Das scheint Sie zu überraschen«, sagte die Frau. Sie zog ein Trinkgefäß aus dem Gürtel und nahm einen Schluck von ihrem Kraft spendenden Getränk, einer Mischung aus Milch und Rinderblut. »Ein paar Monate lang war ich noch beim Gummisammeln, dann wurde
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