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Ewige Nacht

Ewige Nacht

Titel: Ewige Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilkka Remes
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…«
    »Nicht am Telefon. Ich oder jemand von uns kommt und holt dich hierher. Ist dir das recht?«
    »Na klar. Die Adresse ist Rue …«
    »Wir haben die Adresse«, beeilte sich die Frau zu sagen.
    In Aaros Bauch kribbelte es vor Spannung. Natürlich: Telefone und Wohnungen konnten abgehört werden!
     
    Noora stieg den steilen Hang vom Hochplateau des Mwanga zu der Höhe hinab, wo sich die Höhleneingänge befanden. In der Ferne hörte man einen Helikopter. Ralf brachte den Hubschrauber vom Berg weg, er würde bald zurückkommen.
    Noora wich einem umgestürzten Mangobaum aus. Auf ihrem vor Müdigkeit blassen Gesicht perlte der Schweiß. Vor ihr ging Ilgar, die Maschinenpistole in der Hand.
    »Was habt ihr mit Nortamo vor?«, fragte Noora außer Atem.
    Sie musste sich an einem Ast festhalten, um eine schmale Stelle zu überwinden, bei der es mehrere Meter senkrecht in die Tiefe ging. Auf der anderen Seite war die Vegetation so dicht, dass sie eine grüne Wand zu bilden schien, hinter der sich die Labyrinthe der Höhlen befanden.
    »Warum sagst du nichts?«
    Ilgar schwieg. Seine schmalen Wangen waren noch eingefallener als sonst.
    »Ihr wollt ihn umbringen«, fuhr Noora mit belegter Stimme fort. »Aber dann wird es hier von seinen Kollegen nur so wimmeln … Sag doch was!«
    »Die Führerin wird mit ihm tun, was sie für richtig hält«, erwiderte Ilgar. »Ich weiß nicht, was Ralf mit ihr besprochen hat.«
    »Ach, du weißt wohl auch von nichts? Du lügst doch! Ihr lügt mich alle an! Warum …« Noora versagte die Stimme. »Aber auch bei mir gibt es eine Grenze, und die ist jetzt erreicht«, keuchte sie, wobei sie sich zwang, ruhiger zu werden. »Ihr seid blind geworden … Wenn Nortamo verschwindet, werden hier bald zahllose Beamte auftauchen. Es ist sinnlos, ihn umzubringen … sinnlos , verstehst du?«
    Ilgar schaute sie mit seinen dunklen Augen an. »Es macht nichts, wenn hier später Polizisten auftauchen. Das wird uns dann nicht mehr interessieren.«
    Noora starrte Ilgar an.
    Plötzlich machte sie auf dem Absatz kehrt und lief in ihrer Wut geradewegs in den Wald hinein. Der Bewuchs wurde dichter, aber sie lief immer schneller.
    »Warte«, rief Ilgar.
    Mit den Händen schob Noora das Blattwerk zur Seite. Sie beschleunigte ihre Schritte, als sie begriff, dass sie vor Ilgar floh.
    »Bleib stehen, verdammt«, rief er hinter ihr her.
    Das heftige Atmen tat ihr in den Lungen weh, und die Milchsäure brannte in den Beinen. Sie war an einem Wendepunkt angelangt, ähnlich wie vor ewigen Zeiten auf der Pelztierfarm. In der Nacht hatten sie die Käfige geöffnet, und ihr Vater war hinter ihnen hergerannt und hatte mit der Schrotflinte auf sie geschossen. Da sie Masken trugen, wusste er nicht, dass seine Tochter eine von ihnen war. Noora war am Oberschenkel getroffen worden und gestürzt. Ganz genau erinnerte sie sich an den Gesichtsausdruck ihres Vaters, als er mit dem Gewehr in der Hand auf sie zukam, ohne die auf dem Boden liegende Frau hinter der Maske zu erkennen. Seine Selbstbeherrschung war verschwunden. Noora rechnete damit, von ihrem eigenen Vater erschossen zu werden.
    Da riss sie sich die Maske vom Gesicht. Dieser Augenblick war der entsetzlichste in Nooras Leben gewesen. Das Gesicht des Vaters glühte vor Zorn, als er das Gewehr auf das Gesicht seiner Tochter richtete. Nie würde sie den Blick ihres Vaters in jener hellen Juninacht vergessen, diese Mischung aus Hass, Schmerz und Enttäuschung.
    Der Vater hatte den Lauf zur Seite gerichtet, abgedrückt und war davongegangen.
    Die Schrotkugeln in ihrem Oberschenkel waren im Krankenhaus von Seinäjoki entfernt worden. Ihr Vater hatte sie dort nicht besuchen wollen, und sie hätte ihn auch nicht sehen mögen. Sie hatte das Gymnasium abgebrochen und war nach Helsinki gegangen, wo sie im Stadtteil Alppila in einer WG mit Gleichgesinnten gewohnt hatte. Dort hatte sie Hanna kennen gelernt. Ein Jahr später war sie nach Italien gegangen. Ihren Vater hatte sie seit der schicksalhaften Nacht nicht mehr gesehen. Von ihrer Mutter wusste sie, dass ihr Vater nicht über sie sprach, aber unendlich unter der Situation litt. Aber dann sollte er eben um Verzeihung bitten! Doch dazu war er nicht bereit.
    Noora blieb vor einem umgestürzten Sapele-Baum stehen und blickte sich um. Sie war außer Atem. Von Ilgar war nichts zu hören und zu sehen. Sie hatte ihn abgeschüttelt. Sie merkte, dass sie zitterte, und versuchte sich zu beruhigen, aber es gelang ihr nicht. Sie hatte sich

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