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Ewige Nacht

Ewige Nacht

Titel: Ewige Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilkka Remes
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Hände auf der Brust. Seine Fingerspitze hinterließ einen hellroten Fleck auf dem Laken.
     
    Timo stand auf und überlegte, ob er Reija wecken sollte. Es war halb sieben und noch dunkel.
    Sollte sie weiterschlafen. Er würde sie später anrufen und ihr Anweisungen für den Einkauf geben.
    Timo hatte Soile gegenüber kein Wort über Reijas denkwürdigen Zustand bei der Ankunft und ihren Kleidungsstil verloren. Am Wochenende würde sie kommen, dann durfte sie selbst mit Reija die Haushaltsfragen und die Spielregeln bei der Ernährung abstimmen, damit Aaro sie nicht nur sein Lieblingsessen einkaufen ließ.
    Gähnend schlurfte Timo in den Flur und drückte auf den Lichtschalter. An der Wand waren Kartons und Taschen aufgestapelt, die er spät in der Nacht, als er nach Hause kam, aus dem Auto ausgeladen hatte.
    Die Tür zu Aaros Zimmer stand einen Spalt weit offen. Er warf einen Blick hinein. Aaros Bett war leer.
    Timo fuhr herum.
    »AARO!«
    Die Tür des kleinen Zimmers ging auf, Reija kam zum Vorschein und rieb sich die Augen. Sie trug einen geschmacklosen, engen Pyjama, auf dessen Vorderseite Brüste in einem knappen Bikinioberteil gedruckt waren. »Was ist denn los?«
    »Wo ist Aaro?«
    »Was brüllst du so?«, fragte jemand hinter Timo.
    Blinzelnd schloss Aaro die Toilettentür hinter sich und versuchte, seine Haare zu bändigen.
    »Tschuldigung«, brummte Timo. »Ich bin selbst noch verpennt … Ich muss zur Arbeit.«
    »Jetzt schon?«, fragte Aaro. »Wann bist du denn nach Hause gekommen?«
    »Ich lasse euch Geld da, damit ihr einkaufen könnt. Aber bitte nur in den Delhaize gehen, okay? Nirgends sonst.«
    »Da kriegt man doch nichts. Und ich müsste mir einen neuen Rucksack kaufen.«
    »Nimm noch für ein paar Tage den alten. Zu einem besseren Zeitpunkt gehen wir zu Wolu shopping.«
    »Zu einem ›besseren Zeitpunkt‹? Wann soll das denn sein?«
    Aaros bitterer Unterton saß. Timo schaltete die Kaffeemaschine ein und ging ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Er war froh, dass die Schule bald anfing. Dort war Aaro wenigstens einigermaßen in Sicherheit. Bei aller Müdigkeit stellte Timo fest, dass er sich fragte, wie Soile wohl auf Reijas idiotischen Schlafanzug reagieren würde.
    Aaro erschien in der Tür. »Gibt’s was Neues?«
    »Worüber?«, fragte Timo knapp, obwohl er sehr wohl verstand, dass der Junge vor Neugier brannte.
    »Schon gut«, sagte Aaro und wandte sich ab.
     
    Noora atmete die frische Morgenluft ein und versuchte sich zu beruhigen. Sie hatte zu wenig geschlafen und zu viel nachgedacht – doch solange Ralf schwieg, konnte sie nachdenken, so viel sie wollte. Es brachte nichts.
    Sie gingen vom Haupteingang des Hotels auf die Gartenpforte zu. Die Villa Cannero, ein kleines neoklassizistisches Hotel aus dem 19. Jahrhundert, stand auf einem Gartengrundstück, das zum Seeufer hin abfiel. Zur Straße hin war ein asphaltierter Parkplatz angelegt worden.
    Die Berge auf der anderen Seite des Comer Sees lagen noch im Dunkeln, in den Häusern am Hang brannten Lichter.
    »Was war das für ein Brief, mit dem du den Papst erpresst hast?«, fragte Noora leise.
    Das Hupen eines Autos an der Kreuzung brach die samtene Stille.
    »Ich verstehe schon, wenn du nicht darüber sprechen willst … Hat es mit deinem Onkel zu tun?«
    Ralf nickte kaum merklich. »Ich will nicht über Eugen reden. Er … er hat uns gequält. Vor allem Theo.«
    Ralf schob die Hand in die Brusttasche und hielt Noora ein zusammengefaltetes Blatt Papier hin.
    Noora blieb stehen und öffnete es: ein alter Brief, geschrieben in der Handschrift eines Kindes.
    »Eine Kopie des Originals«, flüsterte Ralf mit Blick auf den stillen See. »Ich habe ihn mit 14 Jahren an den Stellvertreter Gottes auf Erden geschrieben und ihn um Hilfe gebeten …«
    Noora versuchte, den Brief zu lesen, aber es war mehr, als sie verkraften konnte. Sie faltete ihn wieder zusammen.
    »Der Papst war damals Bischof in Lüderitz. Er gab Eugen den Brief … Danach wurde alles nur noch schlimmer.«
    Ralf ging weiter, und Noora reichte ihm erschüttert den Brief zurück. Von dem gepflasterten Weg traten sie auf den Rasen und gingen in Richtung Ortsmitte. Noora begriff langsam, woher Theos Probleme rührten. Welche Spuren hatten sie bei Ralf hinterlassen? Vielleicht hatten sie ihn hart gemacht. Aber wenn man Stahl zu sehr härtete, wurde er brüchig. Noora war aufgefallen, zuletzt in Wetzlar, dass Ralf in letzter Zeit viel früher an seine Grenzen stieß, als sie geglaubt

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