Ewige Nacht
geboren in West-Berlin am 14.9.1959; Vater Edmund Wilhelm Denk, Universitätsprofessor, geboren in Regensburg am 24.3.1929, gestorben in Kapstadt am 16.5.1971; Mutter Renata Isabel Denk, geborene Kohler, Journalistin, geboren in Gütersloh am 16.7.1940, gestorben in West-Berlin am 14.5.1970; Bruder Theo Benjamin Denk, geboren am 16.9.1962.
Ralf Denk studierte in Kapstadt und promovierte dort zum Doktor der Molekularbiologie; arbeitete in den USA (Universität Virginia, Charlottesville); lebt in Göttingen; war hauptsächlich im Rahmen universitärer Forschungsprojekte tätig; schloss sich ökologischen Alternativbewegungen an; agierte in den letzten fahren in der Führungsspitze einer militanten Gruppe namens G1.
Am unteren Rand der Seite standen Verweisziffern, die unter anderem zu den Archivinformationen über die G1-Gruppe führten. Den jüngsten Datumsangaben folgten kurze Hinweise auf eine mögliche Beteiligung an Überfällen auf Werttransporter.
Ganz unten war eine Zeile desselben Tages zu lesen: Hausdurchsuchung Jägerstraße, Göttingen, 12.16–12.40 Uhr – BKA: keine Bewohner, normale Wohnungseinrichtung, kein Computer, keine Hinweise auf derzeitigen Aufenthalt.
Timo schnaubte laut. Eine halbstündige Visite konnte man wohl kaum als Hausdurchsuchung bezeichnen, falls in der Wohnung mehr als zwei Möbelstücke standen.
Es klopfte scharf an der Tür, und Heidi Klötz spähte herein. »O’Brien ist da. Was Neues von deinen Kontakten aus Moskau?«
»Ich habe keinen erreicht.«
Heidi Klötz schaute ihn einen Moment mit ihren kalten Schlangenaugen an und sagte leise: »Versuch es noch einmal.«
Tobias wusste nicht, warum Ralf ihm den Auftrag gegeben hatte, die Adresse des Finnen ausfindig zu machen, aber er hatte getan, was ihm befohlen worden war. Den ganzen Nachmittag hatte er dafür gebraucht, weshalb er sich mit einem guten Abendessen im Châtelain belohnte.
Er legte die Serviette auf den Tisch und holte den Notizzettel und den Stadtplan hervor. Tobias war von seinem Äußeren her nur schwer einzuschätzen. Er hatte den Körper eines Bodybuilders, die Glatze eines Neonazis und die feinen Zügen eines Akademikers.
Im Telefonbuch war die Adresse des Finnen nicht zu finden gewesen, auch nicht im Internet, weshalb Tobias sich zur Feldforschung entschlossen hatte. Brüssel setzte sich aus 19 eigenständigen Kommunen zusammen, von denen jede ihr eigenes Gemeindehaus mit eigenem Meldeamt hatte. Die Angaben aus dem Melderegister waren theoretisch nicht öffentlich zugänglich, aber in der Praxis gab es keine größeren Probleme, an Adressen zu gelangen. Tobias hatte gesagt, er komme von einem Anwaltsbüro und suche eine Person, der die Benachrichtigung über eine Erbschaft zuzustellen sei.
Der größte Teil der weißen Ausländer wohnte im Süden oder im Osten, weshalb er sich als Erstes auf Etterbeek, Woluwe und Auderghem konzentriert hatte. Dann war er nach Ixelle gefahren – und gleich fündig geworden: N ORTAMO T IMO, R UE W ASHINGTON 81 , 1050 B RUXELLES .
Die Straße lag nur wenige Kilometer von dem Restaurant entfernt, in dem Tobias jetzt saß. Er rief den Ober, um die Rechnung zu begleichen.
In der Rue Washington herrschte ungestörte Stille. Der Nebel um die Straßenlaternen war dichter geworden. In einem einzigen Fenster der Hausnummer 81 brannte Licht. Dort, im ersten Stock, hielt sich ein Junge im Pyjama auf.
Aaro Nortamo wühlte in den Taschen, die er aus Finnland mitgebracht hatte. Unter den Kleidern waren die Bücher und darunter die geschmuggelten Schätze: ›Mad Max‹, den er von Niko bekommen hatte, und ein Ausdruck der mit Excel angelegten Spielstatistik, in der er jede seiner Wetten eintrug, wenn einmal der seltene Fall eintrat, dass er über zu viel Geld verfügte. Er hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass man beim Wetten nur gewinnen konnte, wenn man bei zu hoch veranschlagten Quoten spielte. Die bestimmten auch, an welche Wettanbieter er seine kleine Spielkasse aufteilte.
Seine Mutter verstand vom Wetten nichts, dafür aber umso mehr von Mathematik. Sie hatte Aaro erklärt, wie man bei der Festlegung des Einsatzes das Kelly-Criterion anwandte. Nach der Kelly/4-Taktik war Aaros durchschnittlicher Einsatz pro Spiel mit 1,56 Prozent der Spielkasse festgesetzt.
Aaros Zimmer war klein, aber hoch. Die Einrichtung unterschied sich zu seinem Verdruss nicht von den Vorgaben der übrigen Wohnung: alte Möbel und Tapeten wie aus den 30er Jahren.
Immerhin: An der Wand
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