Ewige Nacht
feuchte Luft legte sich wie eine dampfende, schwarze Wolldecke um den Leib. Aus der Ferne klang dumpfes, rhythmisches Trommeln.
Noora atmete tief ein und hatte das Gefühl, wieder etwas zu sich zu kommen. Nzanga in seinem Tarnanzug lehnte sich an die Kühlerhaube und steckte sich eine Zigarette an. Von den Hütten wehte der Geruch von Kokosfett und gegorenem Maniuk heran. An einem Feuer in zwanzig Metern Entfernung saßen Männer in einem dichten Kreis. Ilgar öffnete gerade das Tor, als am Feuer ein Schrei ertönte, der einem das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Noora drehte sich um. Im Schein des Feuers tauchte ein halbnackter Mann auf, der in die Höhe sprang, als hätte er Sprungfedern unter den Fußsohlen.
»Nkogoschiii … nkogoschiii …«, schrie er mit scharfer Stimme, die bis ins Mark drang. Noora schauderte. Im Takt seiner Schreie schlug der Mann die Hände über dem Kopf zusammen. Der Rhythmus wurde stärker und dichter, und die Männer rund um das Feuer standen auf: Hinter dem Schreienden erschien ein weiterer Mann. Er trug etwas auf dem Kopf.
Ilgar machte das Tor auf, wobei er Ralf etwas zuraunte. Noora blickte zurück und sah, dass der zweite Mann ein neugeborenes Baby auf dem Kopf trug, dessen Nabelschnur im Gehen wippte. Erst jetzt hörte Noora auch das Schreien des Säuglings.
An der Tür drückte Ilgar auf den Knopf der Gegensprechanlage und sagte etwas. Noora sah, wie sich ein Afrikaner mit einer triefenden Masse in der Hand dem Feuer näherte. Rhythmus und Rufe wurden lauter. Noora kniff die Augen zusammen. Die Masse sah aus wie ein Fleischklumpen. Nun trennte sie der Mann mit einem Messer in der Mitte durch. Die Plazenta, dachte Noora. Die eine Hälfte legte der Mann in eine Holzschale, die andere warf er ins Feuer, das zischend aufloderte.
Innen wurde aufgeschlossen, und eine kleine, fast zwergenhafte jüngere Frau machte die Tür auf. Ihre rötlichen Haare waren zu einem festen Dutt zusammengebunden. Noora und Ralf folgten Ilgar in das bescheiden eingerichtete Gebäude, dessen Boden aus grauem Vinyl war. Die Wände bestanden aus Spanplatten, die bereits Blasen hatten. Im Flur führten Türen in Zimmer mit Tischen, auf denen Computer, Drucker und Kopierer standen wie in jedem gewöhnlichen Büro. Die kleinen Fenster waren durch stabile Gitter geschützt.
Durch die Belüftungsöffnungen drangen das rhythmische Schreien von draußen und ein stechender Geruch, der Noora den Schweiß auf die Stirn trieb und erneut Übelkeit hervorrief. An den Wänden hingen Regale mit Ordnern sowie große Karten und Diagramme. In einem Raum saß ein Mann mittleren Alters, zum dem Ilgar etwas sagte.
Sie gingen in Ilgars Zimmer, wo dieser Ralf einige Computerausdrucke zeigte. Hier war das Fenster zum Glück geschlossen, und der Geruch drang nicht herein.
Auf Ilgars Tisch stand ein Foto. Noora sah, wie Ralf darauf aufmerksam wurde. Das Bild zeigte ein Hochzeitspaar, Gäste in ihren besten Kleidern und einen gelben Moskwitsch, der mit großen Ringen aus Pappe und einem silbernen Band geschmückt war.
»Tanja?«, fragte Ralf.
Ilgar nickte.
Noora spürte die starke emotionale Aufladung, die in Ilgars Blick lag.
»Warte hier«, sagte Ralf zu Noora. »Wir müssen eine Sache erledigen.«
Die Männer verließen den Raum durch eine andere Tür. Noora sah sich um und entdeckte den Computer. Sie hätte gern ihre E-Mails gelesen, ohne die sie sich wie in einem Vakuum fühlte. Sie war mit dem Internet verwachsen, es war für die Aktivisten lebenswichtig: zum Informationsaustausch, zur schnellen Ankündigung von Protestaktionen, zur Abstimmung von Taktiken und zur Koordination von Kontaktpersonen vor Ort. Für Außenstehende bedeuteten Codes wie S11 oder A48 nichts, aber ein Aktivist las in dem Kürzel EGJ1 »Evian-Geneve June 1«. Die Internetseiten erschienen nach Bedarf und verschwanden wieder im Cyberspace, sobald sie ihren Zweck erfüllt hatten.
Von draußen drangen noch immer das rhythmische Geschrei und dumpfes Trommeln herein.
34
Timo atmete tief die feuchte Morgenluft unter dem wolkenverhangenen Himmel in der Rue Washington ein. Er verstaute sein Gepäck im Kofferraum, dann machte er Aaro die Tür auf. Ihm gingen wirre Gedanken durch den Kopf, aber er war zufrieden, sein Versprechen halten und Aaro in die Schule bringen zu können.
Aaro warf seinen neuen Rucksack auf die Rückbank und kroch verschlafen und schlecht gelaunt hinterher. »Jetzt geht’s wieder los«, seufzte er.
»Soll ich fahren?«,
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