Ewige Nacht
fragte Reija. Sie war mindestens ebenso blass und müde wie Aaro, dafür aber noch eine Spur schriller angezogen als sonst. Ihr weiter Kapuzenpulli im Army-Stil, der kurze Latexrock in Pink und die schwarzen Chinapantoffeln ließen das Mädchen mit den orangefarbenen Haaren aussehen wie ein wandelnder Regenbogen. In einer anderen Situation hätte Timo sie zurückgeschickt, um die Klamotten zu wechseln. Jetzt hatte er nicht einmal Lust, sich aufzuregen.
»Nein. Du kannst ein andermal üben.« Timo steckte den Schlüssel ins Zündschloss, und Reija ließ sich auf den Beifahrersitz fallen, wo sie sogleich ihren Rock nach unten zog.
»Wir haben’s eilig«, imitierte Aaro von hinten genervt seinen Vater.
Timo schaltete kurz den Scheibenwischer ein, um klare Sicht zu haben. Er hoffte, in der nächsten halben Stunde würde sich weder sein Piepser melden noch das Telefon klingeln. Sie bogen in die Chaussée de Waterloo ein, wo sich der Berufsverkehr bereits verdichtete.
»Ich muss dich an der Bushaltestelle bei der Schule absetzen«, sagte Timo zu Reija. »Von da kommst du leicht nach Hause. Ich fahre zum Flughafen weiter.«
»Wo fliegen Sie hin?«, fragte Reija.
Ihre Neugier gefiel Timo nicht. »Ich mache ein kurze Dienstreise.«
»Wie lange bleiben Sie weg?«
»Das brauchst du gar nicht erst zu fragen«, kommentierte Aaro mit bitterem Unterton. Dann fragte er selbst: »Bist du am Montag wieder da?«
»Ich verspreche lieber nichts.«
»Also nein. Warum sagst du es nicht direkt?«
Im Brugmann-Park führte eine türkische Frau ihren Hund aus. Die Autoschlange kam zum Stehen, und Timo musste heftig bremsen. Wenn es mit dem Verkehr so weiterginge, würden sie zu spät kommen.
»Wir kommen zu spät«, sagte Aaro.
»Nein.«
Aaro schnaubte.
Der Stau löste sich etwas auf, und Timo wechselte auf die schnellere Spur.
»Der Schulbus ist definitiv am praktischsten«, sagte Timo zu Reija. Über den Spiegel warf er einen Blick auf Aaro. »Hast du Reija die Haltestelle gezeigt?«
»Ja. Aber sie braucht mich nicht von der Haltestelle abzuholen. Im Frühjahr bin ich ja auch allein gegangen.«
»Jetzt gehst du nicht allein. Reija holt dich in den nächsten Tagen ab.«
Zu Timos Überraschung versuchte Aaro erst gar nicht zu widersprechen.
»Spätestens um 15.40 Uhr musst du an der Haltestelle sein.«
Die geschlossenen Fassaden entlang der Straße wurden von frei stehenden Häusern abgelöst, von großen, alten Bauten, in denen Botschaften und Firmen untergebracht waren. Je weiter man kam, umso größer wurden die Parkflächen und kleinen Waldstücke zwischen den Häusern. Gerade, hohe Buchen reckten sich im schwachen Nebel zum Himmel.
»Na bitte. Wir kommen wieder mal zu spät.«
Timo reagierte nicht auf Aaros Quengeln. Sie waren tatsächlich ungefähr zehn Minuten zu spät dran. Rechts ragte die Ruine einer großen Villa auf, ihr Turm war eingestürzt, und die zerbrochenen Rundbogenfenster waren nur noch eine traurige Erinnerung an bessere Zeiten.
»Wie kann man so ein tolles Haus nur so verfallen lassen?«, fragte Reija.
»Vielleicht ist hier eine Sippe erloschen, die sich früher aus den Gummibäumen im Kongo ein Riesenvermögen abgezapft hat.«
»Ich dachte, Gummi wird in Fabriken hergestellt.«
»Rohgummi stammt aus Bäumen. Die Belgier hatten Glück, denn im Kongo wächst eine unendliche Menge an Gummibäumen. Und kaum hatten die Herren John Dunlop und Charles Goodyear das Rezept für die Herstellung von Gummi entwickelt, brauchte man auch schon riesige Mengen davon, zur Isolierung von Telegrafen-und Stromleitungen, für Autoreifen, für alles Mögliche.«
Timo setzte den Blinker und bremste. »Aber für die Kongolesen wurde der Gummi zur Tragödie …«
»Bitte keinen Vortrag heute Morgen«, sagte Aaro trocken.
Timo verstummte. Im Frühling hatte er Aaro im Afrika-Museum von Tervuren die wahre Geschichte des Kongo erzählt, über die kein einziges Exponat die Museumsbesucher aufklärte, keine Eisenfessel und kein Gummisammelgefäß. Hauptsächlich dank seiner Gummibäume war der Kongo mit Abstand die ertragreichste aller afrikanischen Kolonien gewesen. Profit kam schnell zusammen, denn man hatte lediglich die Transportkosten. Allerdings brauchte man Arbeitskräfte, und die waren nicht so leicht zu bekommen. Träger konnte man in Ketten legen und zur Arbeit zwingen, Gummisammler nicht. Um genug Gummi aus Baumstämmen in ein Gefäß zapfen zu können, musste sich der Gummisammler in einem weitläufigen
Weitere Kostenlose Bücher