Ewige Nacht
erbrach.
Ralf sah sie voller Mitgefühl an und gab ihr eine Plastiktüte. Vorne warf Nzanga Ilgar einen fragenden Blick zu.
»Nicht anhalten«, sagte Ralf. »Wir fahren weiter.«
Noora spuckte noch ein paar Mal in die Tüte, Ralf starrte aus dem Fenster. Das Ziel rückte unausweichlich näher. Ralf überlegte, welche Anweisungen er Tobias in Brüssel geben sollte. Am klügsten wäre es, ihm zu sagen, er solle zunächst weiter abwarten.
Es beruhigte Ralf, zu wissen, dass sie bald ankamen. Es hatte ihm immer viel bedeutet, dass die Wurzeln der menschlichen Spezies in Afrika lagen. Er hatte die unbestreitbaren Beweise dafür mit eigenen Augen gesehen: in der Clusteranalyse auf einem Computerausdruck. Während des Studiums hatte er bei einem Projekt mitgearbeitet, bei dem Proben aus den Mitochondrien von Zellen verschiedener ethnischer Gruppen entnommen worden waren. Diese wurden kartiert, um etwas über den Ursprung des Menschen zu erfahren. Und tatsächlich: Der Garten Eden lag in Afrika. Von dort aus hatten sich die neuen Generationen in alle Richtungen vermehrt. Inzwischen war die Menschheit zu einer Flut geworden, die den Planeten zu überschwemmen drohte. Der Mensch selbst hatte das Paradies zur Hölle gemacht.
Ralf wusste das, denn er war in der Hölle gewesen. In Burundi hatte er versucht, eine außergewöhnlich heftige Cholera-Epidemie zu bändigen, indem er die Bakterien isolierte und mit den Hilfsorganisationen die Gegenmaßnahmen koordinierte. Damals war ihm klar geworden, dass die weltweite kapitalistische Privatisierung bis in die Hilfsorganisationen reichte. Oxfam, CARE, Ärzte ohne Grenzen und zahllose andere Organisationen betrieben Hilfsprogramme, die früher einmal Regierungssache gewesen waren. Dafür erhielten sie den größten Teil ihrer Gelder von den Staaten, von der UNO und von der EU, anders als viele private Spender glaubten. Und daher verkniffen sie sich jede Form der Kritik an den Regierungen der Staaten. Man mied alle Fragen der Politik und der internationalen Beziehungen, um sicherzustellen, dass der Geldfluss nicht versiegte.
Die weißen Mitarbeiter der Hilfsorganisationen verdienten immerhin 2500–4000 Euro im Monat, was in manchen Gegenden der Welt einem Jahreseinkommen der Einheimischen entsprach. Die meisten beschäftigten Einheimische als Bedienstete und hielten sie für faul, dumm und abergläubisch. Viele waren von der Korruption und der totalen Wirkungslosigkeit ihrer Arbeit frustriert und darüber zynisch geworden. Früher hatte Ralf den ›New Internationalist‹ als Müll verurteilt, weil ehemalige Helfer darin die Mängel der Entwicklungshilfeprogramme offen legten – bis er mit eigenen Augen die Wahrheit gesehen hatte:
Noch immer hatte er den Geruch von Tausenden in der Sonne aufgedunsener toter Leiber in Burundi in der Nase. Auf der harten Erde war nicht einmal Raum für einen Schlafplatz gewesen. Die Helfer hatten den sterbenden Patienten eine Zucker-Salz-Lösung eingeflößt und den stärkeren mit dem Löffel Proteinpulver gegeben. Dennoch waren innerhalb weniger Tage mehr als 50000 Menschen gestorben. Angesichts dieses unbeschreiblichen Leids waren selbst erfahrene Entwicklungshelfer zusammengebrochen.
Ralf war nicht zusammengebrochen, aber etwas war mit ihm geschehen. Nachdem der Genfer Geschäftsmann Henry Dunant im Jahr 1859 gesehen hatte, wie bei der Schlacht von Solferino im Laufe eines einzigen Tages 40000 Männer starben oder verwundet wurden, hatte ihn das dazu veranlasst, international verbindliche Regeln zum Schutz von Verwundeten vorzuschlagen. Das war der Anfang des Roten Kreuzes gewesen.
Auch beim Völkermord in Ruanda hatte man das Rote Kreuz eingesetzt – allerdings erst, als Hunderttausende bereits in einem unfassbaren Blutrausch zwischen Hutu und Tutsi ermordet worden waren.
Mit einer Kühltasche voller Laborproben war Ralf in seine Baracke gegangen. Im einzigen Fernseher des Lagers hatte CNN berichtet, die Staatsoberhäupter der G8 hätten sich in Nizza versammelt, um über internationale Handelsprobleme zu reden.
Warum sprachen sie nicht über das einzige wirkliche Problem: das Bevölkerungswachstum? Ralf hatte gekocht vor Wut. Jene Männer hatten die Macht ehemaliger Kolonialherren geerbt. Sie müssten die heutigen Probleme der alten Beutegebiete lösen. Sie müssten verhindern, dass sich eine Katastrophe wie in Ruanda nicht wiederholte, weder in Afrika noch in Asien oder Südamerika. Jene Männer hatten die Macht und die
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