Ewige Nacht
Gebiet bewegen und auf Bäume klettern. Die Arbeit war schwer und langwierig, und niemand wollte sie freiwillig machen.
Die Belgier erkannten, dass es am einfachsten war, den Leuten Angst zu machen und sie dann zu erpressen. Sie nahmen Frauen aus den Dörfern als Geiseln und ließen sie erst wieder frei, wenn die Männer die geforderte Menge an Gummimasse geliefert hatten. Diese sirupartige Milch musste außerdem noch zum Erstarren gebracht werden, und so begann man, die Masse auf der Haut der Einheimischen zu verteilen, auf Armen, Brust, Bauch und Schenkeln, sie trocknen zu lassen und dann abzuschälen. Die ersten Male war das wegen der Hautbehaarung eine äußerst schmerzhafte Prozedur.
Die Söldner der Force Publique und die lokalen Chefs der Gummigesellschaft bedienten sich grausamer Disziplinierungsmaßnahmen. Hatte jemand 50 Körbe Gummi gesammelt, von denen einer nicht ganz voll war, konnte er mit dem Tod bestraft werden. Die Soldaten mussten die Anzahl der Kongolesen, die sie getötet hatten, belegen, indem sie zum Beweis die rechte Hand des Toten abtrennten und vorlegten. Die Hände wurden geräuchert, damit sie sich in dem heißen, feuchten Klima so lange hielten, bis ein Kontrolleur da gewesen war und sie gezählt hatte. In einigen Camps gab es einen speziellen Fachmann, einen Hand-Verarbeiter, zu dessen Aufgaben das Räuchern gehörte.
Die Patronen aus dem Mutterland kosteten Geld, und für jede benutzte Patrone mussten die Soldaten eine abgetrennte rechte Hand vorweisen können. Allerdings war es weit verbreitet, dass die Soldaten die Patronen zum Wildern benutzten und dann lebendigen Menschen die Hand abschnitten, oft Kindern und Frauen, die am leichtesten zu erwischen waren. Eine andere Methode bestand darin, Kinder durch einen Schlag mit dem Gewehrkolben auf den Kopf zu töten. So sparte man sich eine Patrone für die Jagd. Es war kein Wunder, dass man im Afrika-Museum auf diese Details verzichtete, wenn die belgische Kolonialgeschichte erzählt wurde.
Timo bog in eine Straße ab, die durch ein Waldstück führte und auf der ihnen zahlreiche Autos entgegenkamen. Am Steuer saßen entweder Väter oder Mütter, die ihre Kinder zur Schule gebracht und es nun eilig hatten, in ihre Behörden zu kommen, oder aber Hausfrauen und Au-pair-Mädchen.
»Du hattest Recht, Aaro«, sagte Reija. »Ziemlich speziell hier.«
Die Straße führte in einem weiten Halbkreis auf einen sechsstöckigen Gebäudekoloss aus dem 19. Jahrhundert zu. Timo hielt zwischen kreuz und quer durcheinander stehenden Autos an. Vor ihnen half ein etwas älterer Vater einer Bella Bimba aus einem verbeulten Alfa Romeo mit Mailänder Kennzeichen. Das Mädchen schien so viel eigenen Willen zu besitzen wie eine Porzellanpuppe.
»Soll ich mit zum Eingang kommen?«, fragte Timo, als Aaro bereits ausstieg.
»Fahr ruhig weiter. Du hast’s ja eilig«, sagte Aaro und machte die Tür zu.
Timo hörte die Spitze deutlich heraus. Er bekam, was er verdiente, das war ihm klar. Reija tat so, als hätte sie von der ganzen Anspannung an diesem Morgen nichts mitbekommen. Timo setzte sie an der Bushaltestelle ab und fuhr nach Zaventem weiter.
Der Voodoo-Papst spukte hartnäckig in Timos Gedanken herum. Er ging im morgendlichen Gedränge des Flughafens zu den Gates, da meldete das Palmbook in seiner Brusttasche eine neue Mitteilung. Er blieb neben einem Zeitungskiosk stehen und blickte aufs Display: geheime Nachricht.
Im Gehen loggte er sich in das TERA-Nachrichtensystem ein. Als er merkte, dass die Passagiere sich noch vor dem Ausgang zu seiner Maschine drängten, blieb er stehen und las die Mitteilung.
»Die S-afrikanische Wahrheitskommission hat ehemalige Mitarbeiter von BOSS und Uni Kapstadt wg. eines Vorfalls im Herbst 1988 vernommen, darunter Ralf Denk. Denk hatte an einer Exkursion sowjetischer Wissenschaftler nach Zentralafrika teilgenommen, obwohl man ihn gewarnt hatte, der sowjetische Militärgeheimdienst stecke hinter der Reise …«
Timo las weiter. Ralfs Link nach Moskau war damit bestätigt, aber das machte die Sache noch nicht bedeutsam. Im Gegensatz zu dem Wort, an dem Timos Blick hängen blieb.
Ebola.
35
Ein Zittern durchlief Timos Körper. Das Virus hatte seinen Namen von dem Fluss Ebola in Zaire, dem heutigen Kongo, bekommen. Dort hatte 1976 eine unbekannte Epidemie hämorrhagischen Fiebers gewütet.
Timo verschlang den Text. Doktor Thomas Ontje, der Leiter des Nationalen Virologischen Instituts im südafrikanischen
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