Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ewige Nacht

Ewige Nacht

Titel: Ewige Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilkka Remes
Vom Netzwerk:
können.
    Ralf schien ihre Erschütterung zu bemerken. »Bakutu. Zigtausend Einwohner. Die genaue Zahl kennt niemand.«
    Zwei schwarze Gestalten gingen an der Straße entlang, Kinder. Eines von ihnen trug einen Säugling auf dem Rücken, obwohl es selbst kaum zehn war.
    »Die meisten Kinder von Bakutu sind AIDS-Waisen. Mindestens jeder dritte Bewohner ist HIV-positiv.«
    Nooras Blick folgte den endlosen Reihen von Baracken. In den schmalen Durchgängen häufte sich der Müll. Ein bestialischer Gestank drang bis ins Auto und drehte einem den Magen um.
    »In jeder Baracke hausen fünf oder sechs Menschen. In der gesamten Umgebung hier gibt es keinen Strom, keine Wasserstelle, keine Kanalisation. Von Abfallentsorgung ganz zu schweigen.«
    Irgendetwas huschte durch die Dunkelheit. Jemand warf eine Plastiktüte aus seiner Hütte.
    »Eine fliegende Toilette«, sagte Ralf. »Es ist zu gefährlich, nachts allein zur nächsten Toilette zu gehen, deshalb verrichten viele ihre Notdurft in eine Plastiktüte. Die wird dann einfach nach draußen geworfen.«
    Noora gab sich Mühe, ihren Brechreiz zu unterdrücken.
    »90 Prozent des Bevölkerungswachstums findet schon bald in den Städten statt«, fuhr Ralf fort, während Noora aus dem Fenster starrte. »Jeden Tag nimmt weltweit die Zahl der Menschen an solchen Orten um 180000 zu, durch Zuzug und Geburt.«
    Erst jetzt begriff Noora, warum Ralf in seinen Vorträgen immer wieder auf das Thema Bevölkerungsexplosion zu sprechen kam: Das Bevölkerungswachstum als Ursache aller globalen Probleme wie Armut, Hunger, Flüchtlingsströme, Verwüstung, Treibhauseffekt, die ökologische Zerstörung der Erde. Immer wieder wies er darauf hin, dass die Grenzen nicht in der Belastbarkeit des Menschen, sondern der des Planeten lägen. Die Natur würde zurückschlagen, aber dann wäre es bereits zu spät. Das Einzige, was den Kollaps des Planeten aufhalten könne, sei die Begrenzung des Bevölkerungswachstums.
    »Warum ziehen sie in die Städte?« Noora versuchte, durch den Mund zu atmen. Das Auto schaukelte auf der unebenen Straße. »Hätten sie es auf dem Land denn nicht besser?«
    »Die Leute glauben, dass sie in der Stadt Arbeit finden und ein paar Dollar am Tag verdienen können. Aber die Miete beträgt ja schon zehn bis zwölf Dollar im Monat. Und auch alles andere ist teuer. Diese Menschen hier zahlen für Wasser fünfmal mehr als wir in Göttingen. Dabei verbrauchen wir bei einer Klospülung mehr Wasser, als ein Mensch hier den ganzen Tag benötigt … zum Trinken, um sich zu waschen, zum Kochen. Sakombi kann dir das alles noch genauer darlegen, wenn er kommt.«
    Die Barackenreihen rechts und links der Straße wollten nicht enden.
    »Offiziell gibt es solche Orte wie den hier gar nicht. Hierher werden keine Wasser-und keine Stromleitungen verlegt, nichts. Das würde ja ihre Existenz offiziell machen.«
    Es wurde still im Wagen. Ilgar hatte sich eine Zigarette angezündet. Jetzt war Noora der Rauch ausnahmsweise recht, denn er überlagerte die Gerüche von draußen wenigstens ein bisschen.
    »Am schlimmsten ist es für die Kinder«, sagte Ralf. »Dabei kommen die Leute eigentlich wegen ihrer Kinder her … Um ihnen eine bessere Zukunft zu bieten.«
    Ralfs Stimme wurde hart. »Ich habe eifrige, lernwillige Kinder gesehen, die auf eine bessere Zukunft hofften … Sie verstehen die Wahrheit nicht. Und Gott bewahre sie davor …« – jetzt war Ralfs Stimme nur noch ein Flüstern –, »… zu verstehen, dass es keine Zukunft für sie gibt. In Bakutu leben 20-Jährige, die hier geboren wurden. Und die hier sterben werden.«
    Noora drückte Ralfs Knie. »Könntest du das Fenster zumachen?«
    Ralf drehte an der Kurbel. »Innerhalb von zwei Wochen werden auf der Erde so viele Menschen geboren, wie Kanada Einwohner hat.«
    Noora hielt sich ein Papiertaschentuch vor Nase und Mund, an dem der Pfefferminzgeruch von Kaugummis haften geblieben war. Die Straße stieg leicht an, und der Blick auf die Barackenstadt im Mondschein weitete sich.
    »Die Bevölkerung wächst exponentiell«, fuhr Ralf fort. »Aber nur in der Mathematik können exponentielle Kurven unendlich ansteigen.«
    Das Papiertaschentuch half nicht, und Noora spürte, wie ihr die Galle hochstieg.
    »Die Bevölkerungsexplosion ist ein Faktum, buchstäblich. Und Explosionen folgen dem Gesetz der Exponentialfunktion … von der Granate bis zur Atombombe.«
    Wieder machte sich Stille im Wagen breit, bis Noora sich heftig auf die Fußmatte

Weitere Kostenlose Bücher