EwigLeid
Wahl gehabt, sie musste Kevin Porter erschießen. Das wusste sie. Er hatte bereits einmal auf sie geschossen, hatte sie angegriffen und war immer noch im Besitz seiner Waffe. Doch letzten Endes hatte Carrie einen Menschen getötet. Einen sechzehnjährigen Jungen, vollgedröhnt mit Drogen. Dessen Großmutter schwor, dass er ein guter Junge war, der rein zufällig in der Schule in schlechte Gesellschaft geraten war.
Sie hatte dieses Bild nicht behalten, um sich selbst zu quälen, sondern um sich daran zu erinnern, dass der Schmerz oftmals Teil ihres Berufs war. Jeder x-Beliebige konnte ein Vergewaltiger oder Mörder oder ein anderweitig gefährlicher Verbrecher sein.
Jeder x-Beliebige.
Ob männlich oder weiblich. Alt oder jung. Hässlich oder gut aussehend. Manchmal waren die, denen sie das Handwerk legen musste, genauso wie Kevin Porter. Manchmal hatten sie auch einen guten Kern. Manchmal hätten sie einen anderen Weg einschlagen können oder waren selbst Opfer. Doch es war einerlei. Wenn jemand gefährlich wurde, musste sie ihn stoppen, um andere zu schützen. Und, ja, um sich selbst zu schützen.
Deshalb hatte sie die Zeichnung behalten.
Um sich daran zu erinnern, warum sie ihren Beruf ausübte. Und damit sie nicht überrascht war, nicht wieder zögerte, ihre Waffe abzufeuern, wenn ein Täter nicht so aussah, wie sie erwartet hatte.
Falls Gewissensbisse ein Nebenprodukt waren, konnte sie es nicht ändern. Denn Schuldgefühle waren ebenfalls Teil ihres Berufs. Und nachdem sie fast einen Monat pausiert hatte, durfte sie jetzt endlich ihre Arbeit in der SIG wieder aufnehmen. Mac,der leitende Special Agent in der SIG, hatte sich vehement dafür eingesetzt, dass sie zurückkommen durfte. Und noch mehr hatte er dafür gekämpft, dass ihr die gewünschte Aufgabe zugeteilt wurde. Allerdings nicht, ohne sich bei ihr zuvor zu vergewissern, dass der Fall sie nicht überfordern würde, doch letzten Endes hatte er sie unterstützt, und dafür würde sie ihm ewig dankbar sein.
Das Team hatte ihr gefehlt – besonders Jase, wenngleich sie sich kaum Gedanken an ihn gestattete. Hauptsächlich allerdings hatte sie die Arbeit vermisst. Die Herausforderung. Zu Hause zu sitzen und auf die Genesung zu warten, das reichte aus, um sie vor Frust zum Schreien zu bringen. Wenn sie arbeitete, blieben wenigstens die Erinnerungen aus.
Dass die Arbeit ihr viel abverlangen würde, war im Augenblick die geringste ihrer Sorgen. Kein Wunder, dass böse Träume und Zweifel an ihrer Leistungsfähigkeit sie quälten. Doch die ihr übertragene Aufgabe hatte sie überhaupt erst dazu veranlasst, frühzeitig wieder an den Arbeitsplatz zurückzukehren. Sie musste sich der Situation gewachsen zeigen.
Sie war schon mehrmals übergangen worden, wenn die Bearbeitung eines Serienmordfalls vergeben wurde, und stand schon lange in den Startlöchern, um einen solchen Fall zu übernehmen. Sie machte sich keine Illusionen über den damit verbundenen Stress. Über die harten Anforderungen. Aber sie wollte ein für alle Mal, nur für den Fall, dass Zweifel daran bestanden, beweisen, dass sie jeden Fall lösen konnte, den das Justizministerium ihr zuwies. Jetzt bekam sie, dank Mac, ihre Chance.
Sie hatte ihm versichert, dass sie gesund sei, körperlich wie auch emotional. Dass sie die Strapazen einer Aufgabe wie dieser brauchte, damit sie wieder voll einsteigen konnte. Allerdings konnte sie nicht leugnen, dass etwas verändert war, seit sie Kevin Porter erschossen hatte. Sie selbst hatte sich verändert. Und sie hatte keine Ahnung, was sie dagegen tun sollte.
Obwohl sie wusste, dass Porter bewaffnet war, obwohl sie wusste, dass es womöglich um ihr Leben ging, hatte sie gezögert, auf ihn zu schießen. Und als sie dann schließlich schoss, verfehlte sie ihn. Klar, beim zweiten Schuss hatte sie getroffen, doch das konnte sie nicht sonderlich beruhigen.
Vermutlich betrachteten ihre Vorgesetzten die Übertragung dieses Serienmordfalls an sie als eine Art Tapferkeitsorden, nicht nur als Belohnung für die beeindruckende Zahl ihrer gelösten Fälle im vergangenen Jahr, sondern auch als Trostpreis für ihre Verletzung im Dienst und ihren ersten Tötungsfall. Sie wollte nicht aus Mitleid mit einer großartigen Aufgabe betraut werden, aber es war egal. Der Fall gehörte ihr.
Und wenn sie nun mal gezögert hatte, einen Jugendlichen zu erschießen? Selbst während ihrer Zeit im SWAT hatte sie nie mit Tötungsabsicht schießen müssen. Ihr Zögern war völlig
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