Ex en Provence
warm und die Landschaft absolut atemberaubend.
So viel zum Positiven.
Die Höhe raubt mir auch etwas den Atem, und ich bin ziemlich froh, mich auf diese Picknickbank sinken lassen zu können. Inzwischen habe ich meine Trekkingjacke ausgezogen, sie ist einfach zu warm, und meine Füße qualmen nicht schlecht in meinen natürlich aus Deutschland importierten Profiwanderschuhen.
Ich versuche, den Gedanken an Elises Stall, an die vielen dreckigen Hände im Brotteig und an die Salmonellen zu verdrängen, die die Kinder vermutlich just in diesem Moment mit den nicht gerade hartgekochten Eiern zu sich nehmen. »Œuf à la coq«, heißt das weiche, noch lauwarme Ei, in das die Kinder Brotstücke tauchen und das den Franzosen offenbar als Alibi dafür dient, ein warmes Mahl verzehrt zu haben.
Auch versuche ich, mein Hirn von einer Inhaltsanalyse dieser Würstchen abzuhalten. Erst neulich habe ich in der Zeitung über das Boudin-Fest gelesen, das jedes Jahr im Herbst in L’Oublie-en-Provence stattfindet. »Boudin« ist eine Blutwurst, die ich mir ungefähr so vorstelle wie dieses Objekt vor mir.
Trotz der intensiven Verdrängungsarbeit bekomme ich kaum einen Bissen herunter.
»Na, keinen Hunger?«, erkundigt sich Eric, der keinen Platz an den Picknick-Tischen mehr abbekommen hat und mit Wurst, Käse und Brot in den Händen neben mir steht.
»Geht so.«
»Wegen der rustikalen Lebensweise, stimmt’s?«
»Hm. Sozusagen.«
»Ach, das wird uns nicht umbringen. Das härtet ab. Darf ich mir mal kurz deine Jacke leihen?«, sagt er und schnappt sich mein sündhaft teures Superthermo-Modell, lässt es auf den Boden fallen, setzt sich darauf und beißt genüsslich in sein dick mit Käse belegtes Brot.
»Äh.«
»Was ist?«, fragt er unschuldig.
»Meine Jacke!«
»Die ist wirklich gemütlich. Besser als jede Bank. Willst du dich zu mir setzen?«
»Die Jacke ist eigentlich nicht als Picknickdecke gedacht.«
»Ah, bon?« Eric prüft zwischen Daumen und Zeigefinger den robusten Hightech-Funktionsstoff und streicht dann sanft über das weiche Fleece-Innenfutter. »Ich verstehe, das ist Ei Kualitie meiid iin Dschermanie !«
»Wie bitte?«
»Kannst du etwa kein Englisch?«
»Doch, durchaus.«
»Na, also: Ich sagte, das ist Ei Kualitie meiid iin Dschermanie … leik ju .
**
«
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16:29 (eine Minute vor der üblichen »goûter«-Zeit)
Auf einem Felsplateau irgendwo mitten in den Bergen.
»Wann sind wir endlich da?«, fragt ein Mädchen.
Keine Ahnung.
»Ich habe Hunger«, erklärt ein Junge.
Ich auch.
»Wann gibt es ›goûter‹?«
Noch lange nicht.
»Ich kann nicht mehr!«
Ich auch nicht.
»Haben wir uns verlaufen?«
Ja, eindeutig.
»Nein, natürlich nicht«, beruhige ich die Kinder. »Wir sind gleich wieder am Bauernhof, und dann gibt es auch ganz schnell ›gôuter‹!«
Neben mir kniet Eric auf dem Waldboden und studiert die Wanderkarte, die Mademoiselle Elodie uns mitgegeben hat. Sie hat die Klasse in zwei Gruppen aufgeteilt und ist selbst mit zwölf Kindern sowie dem Bauern unterwegs, der in diesem Wald wohl jede Tannennadel kennen dürfte. Wir machen eine Art Schnitzeljagd, die den Kindern die Natur näherbringen soll: Spuren von Tieren erkennen und gegebenenfalls mitbringen. Das war Standardprogramm in Jules altem Kindergarten, ist aber Ausnahmezustand in einer französischen Vorschule. Angeknabberte Tannenzapfen einsammeln, Hasenköttel liegenlassen, lautet die Direktive. Ich fand es bis eben recht amüsant.
Bis wir nämlich an diese Weggabelung gekommen sind und ich geradeaus in circa 50 Metern Entfernung rein gar nichts mehr sehen konnte außer einem atemberaubenden Blick auf das nächste Bergmassiv – und sonst nur Abgrund. Kein Geländer, kein Warnschild, aber dafür zwölf Kinder, die wahrscheinlich gleich wie die Lemminge eines nach dem anderen diesen Felsen herunterstürzen.
Eric sieht ziemlich ratlos aus. Beim Start unserer kleinen Wanderung hatte er souverän nach der Karte gegriffen und sich mit ein paar Jungs an die Spitze unserer Gruppe vorgearbeitet.
Alles schön traditionell. Frankreich eben. Nur ich hätte eigentlich der männlichen Führungskompetenz noch verbal applaudieren müssen. Oder ein bisschen schnurren.
Aber jetzt haben wir uns verlaufen.
»Darf ich mal?«, erkundige ich mich möglichst höflich und zeige auf die Karte.
»Hm. Ich glaube nicht, dass du … ich meine, es ist doch bekannt, dass Frauen einen schlechteren Orientierungssinn haben als …«
Oh, Mann, hat das
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