Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
er in dem Winkelblatt der Emigranten, in den »Pariser Nachrichten«, für ein paar Franken Artikel schreiben darf?
Alles wäre leichter, wenn sie wenigstens an seiner Arbeit, an seiner Musik teilnehmen könnte wie früher. In Deutschland hat er ihr vorgespielt, er hat jedes winzigste Detail mit ihr durchgesprochen, und wenn sie auch nicht genügend vorgebildet war, um alles zu kapieren, Instinkt hat sie, und worum es ihm geht, das begreift sie, und es war bestimmt nicht bloße Verliebtheit, wenn er ihr hundertmal versichert hat, sie sei sein musikalisches Gewissen. Es ist nicht immer ganz reibungslos abgegangen, wenn sie an seinem Werk gekrittelt hat. Er nimmt seine Arbeit verdammt ernst; aber manchmal, wenn sie gar keine Ruhe gegeben hat und immer noch nicht zufrieden war und immer weitergequengelt hat, er müsse diese oder jeneStelle noch einmal überfeilen, bei der Vierzehnten Horaz-Ode zum Beispiel, da hat er doch die Wut bekommen, und es hat böse Worte gesetzt. Allein zuletzt hat er sich trotzdem fast immer von neuem ans Werk gemacht, brummelnd, und es hat sich gezeigt, daß es keine verlorene Mühe war. Es waren schöne Stunden, wenn sie mit ihm zusammen arbeitete, man hat gespürt, wie tief man zusammengehört. Jetzt muß sie sich, statt an seiner Arbeit teilzunehmen, jeden Vor- und Nachmittag für ein paar lumpige Franken bei Dr. Wohlgemuth abschinden, muß widerwärtige, schimpfende Patienten beschwichtigen, ihm gelegentlich assistieren, in Münder mit fauligen Zähnen hineinschauen, hineinlangen, und immer liebenswürdig lächeln. Sie glaubt sich von ruhigem Temperament, aber sie begreift nicht, wie Sepp das alles so gelassen hinnimmt.
Im Nebenzimmer der Junge steht auf. Anna, nachdem sie schon einmal wach ist, könnte eigentlich auch aufstehen. Aber bei Pereyros muß sie frisch ausschauen, und wenn sie sich nie genügend Bettruhe gönnt, ist sie in zwei Jahren eine alte Frau. Nein, es ist schon besser, sie bleibt liegen.
Sie hört den Jungen – sie nennt Hanns ebenso beharrlich den Jungen, wie Sepp ihn den Buben nennt – in dem kleinen Badezimmer plätschern, sich waschen. Sicher wird er wieder kurze Unterhosen nehmen, seine Kameraden im Lyzeum finden nur kurze Unterhosen schick, aber es wäre besser, auf das bißchen Schick zu verzichten und die Gefahr einer Erkältung zu vermeiden. Allein sie unterdrückt die Anwandlung, Hanns eine solche Anweisung zu geben. Er ist vernünftig, doch wenn man ihm einreden will, wird er verbockt.
Da kommt er herein. Anna strahlt auf, wie sie ihn sieht. Er ist nicht groß, doch breit und kräftig; die tiefliegenden Augen und die starken Brauen, beides hat er vom Vater, geben ihm etwas Männliches, über seine Jahre hinaus Ernstes. Anna schämt sich ein bißchen, vor diesem ihrem Jungen mit Sepp im Bett zu liegen; auch stört es sie gerade vor ihm, daß ihr Haar grau ist, ungepflegt.
Hanns ist frisch und ausgeschlafen. Des Vaters Anerbieten, bei der Bereitung des Frühstücks zu helfen, lehnt er ab, gutmütig überlegen: »Ach, laß nur, Sepp« – der Vater behandelt ihn wie einen Erwachsenen und läßt sich Sepp von ihm nennen –, »du störst mehr, als du hilfst.« Während des Frühstücks dann schwatzt man über die Freuden und Leiden des Lyzeums. Vor allem die Fremdheit der Sprache macht den jungen Emigranten, die jetzt in französische Schulen gehen, das Leben schwer und bitter. Hanns hat dieses Hindernis schneller genommen als andere, und wenn er auch noch manchmal zu spüren kriegt, daß er der Fremde ist, der Boche, so geht es ihm doch im ganzen im Lyzeum viel besser, als er im Anfang gehofft hat. Er hat ein gutes Jahr aufgeholt, und während er ursprünglich mit französischen Jungen hat zusammen sitzen müssen, die zwei Jahre jünger waren, ist er jetzt so weit, daß er bestimmt sehr bald, vermutlich noch mit achtzehn, sein Schlußexamen, das Baccalaureat, wird machen können.
Von den Vorbereitungen für dieses Baccalaureat, für das Bachot, wie sie es hier nennen, und von Hannsens Aussichten spricht man während des Frühstücks. Die Zeit vergeht schneller, als Anna lieb ist. Mit Bedauern sieht sie, wie Hanns hinauf nach der Uhr blickt. Diese Uhr übrigens, eine schöne, nicht große Wanduhr aus edlem Holz, ist das Prunkstück der Wohnung. Anna hat sie Sepp einmal zum Geburtstag geschenkt, und Sepp liebt sie; sie ist so schlicht, und ihr leises Ticken regt ihn an. Sie gehört zu den nicht vielen Dingen, die man hat retten, die man sich aus Deutschland
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