Exit
müssen. Vor Anwälten und Polizisten.«
»Ja, ja, und ich habe Angst davor, glauben Sie mir. Ich will gar nicht daran denken. Es ist einfach zu …«
Sie schaute zu Boden. Erst als ich die Tränen von ihrem Kinn tropfen sah, merkte ich, daß sie weinte. Ich berührte ihre Schulter. Zuerst zuckte sie zurück, doch dann gab sie ihren Widerstand auf, warf sich an meine Brust und weinte hemmungslos. Unter Schluchzen begann sie zu reden.
»Sie denken, Sie kennen jemanden. Sie denken, es liebt Sie jemand, und dann … dann bricht alles zusammen. Alles, was ich für wirklich gehalten habe, entpuppt sich als… Täuschung. Nichts - nichts bleibt übrig. Nichts. Ich …«
»Ganz ruhig, Cindy. Erzählen Sie es mir.«
»Ich hätte … aber ich konnte es einfach nicht glauben!«
»Was konnten Sie nicht glauben?«
»Damals… er war es, der Chad damals fand. Sonst war ich es immer, die aufstand, wenn Chad weinte oder wenn er Bauchweh hatte. Ich war die Mutter - es war meine Aufgabe. Er stand nie auf. Nur das eine Mal, sonst nie. Ich hatte nichts gehört. Das konnte ich einfach nicht verstehen. Warum hatte ich nichts gehört? Warum? Ich wachte sonst immer auf, wenn meine Kinder weinten. Ich bin immer aufgestanden und habe Chip schlafen lassen, nur das eine Mal nicht. Ich hätte es wissen müssen!«
Sie boxte gegen meine Brust und rieb ihren Kopf an meinem Hemd, als wollte sie den Schmerz abreiben.
»Ich hätte wissen müssen, daß etwas nicht stimmte, als er mich weckte und sagte, Chad sähe nicht gut aus. Sähe nicht gut aus! Er war vollkommen blau angelaufen! Als ich in sein Zimmer kam, lag er einfach da, regungslos. Und seine Farbe … Es war… es war alles falsch! Er war nie vorher aufgestanden, wenn der Kleine schrie. Es stimmte einfach nicht. Von da an hätte ich es wissen müssen, dann wäre alles …«
»Sie konnten es nicht wissen«, sagte ich, »niemand konnte es wissen.«
»Aber ich bin doch die Mutter! Ich hätte es spüren müssen!«
Sie stieß mich weg und trat gegen den Zaun. Sie trat auf den Zaun ein, immer fester, sie schlug mit der flachen Hand gegen die Bretter und heulte wie ein verwundetes Tier.
Ich stand daneben und wog meine Worte, meine Pausen und mein Schweigen.
Als ich zum Auto zurückkam, war Ruths Skizzenbogen mit Zeichnungen bedeckt. Ich setzte mich hinter das Steuer, und sie legte das Blatt in ihre Mappe.
»Du bist ja schweißgebadet.« Sie wischte mir das Gesicht ab. »Dir ist doch nicht schlecht?«
»Ich kann mich gerade noch aufrechthalten. Es ist die Hitze.« Ich ließ den Motor an.
»Keinen Fortschritt?«
»Kaum. Es wird noch sehr lange dauern.«
Ich setzte zurück, wendete und fuhr los, doch nach hundert Metern lenkte ich an den Randstein und hielt wieder. Ich zog die Handbremse an, lehnte mich über den Sitz und drückte Ruth an mich. Sie warf die Arme um meinen Hals, und wir küßten uns lange.
Ein lautes »Ähem« riß uns auseinander. Wir schauten auf und sahen einen alten Mann, der einen Schlauch schwenkte und seinen Rasen sprengte. Er hatte einen breitkrempigen, löchrigen Strohhut auf, der ein faltiges, sauertöpfisches Gesicht beschattete, das seinen Abscheu kaum verbergen konnte.
Ruth lächelte ihm zu.
Er schüttelte den Kopf. Das Wasser aus seinem Gartenschlauch spritzte im hohen Bogen auf den Bürgersteig.
Ruth steckte den Kopf durchs Seitenfenster und rief:
»Was ist los? Haben Sie was gegen wahre Liebe?«
»Kein Anstand, dieses junge Gemüse!« war sein Kommentar.
Wir fuhren davon, ohne uns für das Kompliment zu bedanken.
Buch
Die kleine Cassie leidet unter einer mysteriösen Krankheit. Als die Ärzte der Kinderklinik nicht mehr weiterwissen, ziehen sie den Psychologen Dr. Alex Delaware zu Rate. Dieser vermutet, dass Cassies Krankheit von ihren Angehörigen nur vorgetäuscht wird, dass es sich also um einen Fall des „Münchhausen-Syndroms“ handelt. Im Krankenhaus stößt er aber auch auf manipulierte Diagnosen, verschwundene Computerdaten und Ärzte, die verzweifelt gegen Schikanen kämpfen. Und dann wird einer dieser Ärzte ermordet aufgefunden…
Autor
Jonathan Kellerman ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Kriminalautoren. Nach dem Studium arbeitete er zunächst als Kinderpsychologe. Seine Reihe mit dem Psychologen Dr. Alex Delaware ist berühmt für höchst einfühlsam entwickelte Figuren und eine raffinierte Handlung: Hochspannung von der ersten bis zur letzen Seite. Dafür ist er unter anderem mit dem „Edgar-Alan-Poe-Award”,
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