Exodus
Flüchtlingsorganisation um Auskunft über Karens Aufenthalt gebeten und außerdem angefragt habe, ob das Ehepaar Hansen irgend etwas über Karens Mutter oder ihre Brüder wüßte.
Man nahm an, daß die Anfrage von Johann Clement kam oder von jemandem, der in seinem Auftrag handelte. Karen schloß daraus, daß ihr Vater und ihre Mutter voneinander getrennt worden waren, und ihr Vater keine Kenntnis vom Tod ihrer Mutter und ihrer Brüder hatte. Der nächste Brief von den Hansens teilte mit, daß sie zwar geantwortet hätten, die Flüchtlingsorganisation aber den Kontakt mit Clement verloren habe.
Er lebte! Die vielen und langen Monate, die sie in den Lagern in Schweden, in Belgien und in La Ciotat zugebracht hatte, hatten sich also doch gelohnt! Noch einmal fand sie den Mut, nach ihrer Vergangenheit zu forschen.
Karen wunderte sich, wieso La Ciotat durch Geldspenden von Juden, die in Amerika lebten, finanziert wurde. Alle Nationen waren im Lager vertreten, aber keine Amerikaner. Sie fragte Galila, die aber zuckte nur die Achseln und sagte »Zionismus, das ist, wenn jemand einen anderen um Geld bittet, um es einem dritten zu geben, damit ein vierter nach Palästina kann«.
»Wie schön«, meinte Karen, »daß wir Freunde haben, die zusammenhalten.«
»Wir haben allerdings auch Feinde, die zusammenhalten«, antwortete Galila.
Die Insassen des Lagers La Ciotat waren ihrem Aussehen und ihrem Verhalten nach wahrhaftig nicht anders als andere Menschen, stellte Karen fest. Die meisten von ihnen waren durch die Tatsache, daß sie Juden waren, genauso verwirrt wie sie selbst.
Als sie genügend Hebräisch gelernt hatte, um sich allein zurechtzufinden, wagte sie sich in den Teil des Lagers, in dem die orthodoxen Juden untergebracht waren, und beobachtete dort die für sie seltsamen rituellen Handlungen, die Gebete und die Kleidung dieser Leute. Das Judentum war unabsehbar wie ein Meer, und ein
fünfzehnjähriges Mädchen konnte darin wahrhaftig ertrinken. Die jüdische Religion beruhte auf einem umfassenden System von Gesetzen. Einige davon waren schriftlich festgelegt, und einige nur mündlich überliefert. Sie erstreckten sich bis in die kleinsten Kleinigkeiten, so zum Beispiel gab es eine Vorschrift, wie man auf einem Kamel zu beten habe. Der heilige Kern dieser Religion waren die fünf Bücher Moses, die Thora.
Von neuem versuchte Karen, in der Bibel Antwort auf ihre Fragen zu finden, und von neuem geriet sie dabei in Verwirrung. Wie konnte es Gott zulassen, daß man sechs Millionen seines auserwählten Volkes umbrachte? Karen kam zu dem Schluß, daß nur die Erfahrung, das Leben selbst, ihr eines Tages die Antwort auf diese Fragen geben würde.
Die Insassen des Lagers La Ciotat brannten vor Begierde, Europa hinter sich zu lassen und nach Palästina zu kommen. Das einzige, was sie daran hinderte, sich in einen wilden Mob zu verwandeln, war die Anwesenheit der Palmach-Angehörigen aus Palästina.
Vor einem Jahr hatten alle vorübergehend neue Hoffnung geschöpft, als die Labour-Partei ans Ruder gekommen war und England versprochen hatte, aus Palästina ein Mustermandat ohne Einwanderungsbeschränkung zu machen. Es war sogar die Rede davon gewesen, Palästina zu einem Bestandteil des Britischen Commonwealth zu machen. Doch diese Versprechungen platzten, als die Labour-Regierung ihr Ohr der Stimme des schwarzen Goldes lieh, das unter den Wüsten Arabiens lag. Wie schon einmal vor fünfundzwanzig Jahren wurde die Entscheidung verschoben, und anstelle einer Entscheidung gab es Kommissionen, Untersuchungen und Palaver.
Doch das änderte nichts an dem brennenden Verlangen der Juden von La Ciotat, nach Palästina zu kommen. Agenten von Mossad Aliyah Bet fuhren überall in Europa herum, sammelten die jüdischen Überlebenden und brachten sie über die Grenzen, mit Bestechung, mit gefälschten oder gestohlenen Papieren, mit List und notfalls auch mit Gewalt.
Frankreich und Italien hatten sich von Anfang an auf die Seite der Flüchtlinge gestellt und arbeiteten mit den Mossad-Leuten Hand in Hand. Sie öffneten dem Flüchtlingsstrom ihre Grenzen und errichteten Lager. Italien war darin allerdings sehr behindert, weil es von den Engländern besetzt war. Daher verlagerte sich das Schwergewicht nach Frankreich.
Bald konnten die Lager wie das bei La Ciotat die Massen der Flüchtlinge kaum noch fassen. Mossad Aliyah Bet befürwortete deshalb die illegale Einwanderung. In allen europäischen Häfen waren Mossad-Agenten am Werk,
Weitere Kostenlose Bücher