Exodus
Zwangsarbeiter. Jeder Tag brachte ungewisse Gerüchte und neue schreckliche Gewißheiten. Jeder Tag brachte für Karen immer neue erschütternde Nachrichten. Fünfundzwanzig Millionen Tote — das war die grauenhafte Ernte des Krieges.
Von Belgien führte sie der Weg nach Frankreich, nach La Ciotat, einem Lager für Zwangsverschleppte am Golfe du Lion, einige Meilen von Marseille entfernt. Das Lager war ein freudloser Ort. Auf engem Raum standen düstere Zementbaracken, die in einem Meer von Schlamm zu versinken schienen. Von Tag zu Tag stieg die Zahl der Flüchtlinge, die sich hier ansammelten. Das Lager war überfüllt, es fehlte an allem, und die Lagerinsassen schienen auch hier vom Schreckgespenst des Todes verfolgt zu sein. Für diese Menschen war ganz Europa zu einem einzigen Sarg geworden.
Massenmord! Ausrottung! Ein Totentanz von sechs Millionen! Hier hörte Karen die Namen Himmler und Frank, sie hörte von Streicher, von Kaltenbrunner und von Heydrich. Sie hörte von Ilse Koch, die Lampenschirme aus tätowierter Menschenhaut hergestellt hatte, von Dieter Wisliczeny, der als Leithammel die Schafe zur Schlachtbank geführt hatte. Sie hörte von Krämer, der Spezialist im Auspeitschen nackter Frauen gewesen war, und sie erfuhr den Namen des größten Verbrechers: Eichmann, dem Meister im Massenmord.
Sie hörte die Namen all der anderen, die sich an unmenschlicher
Grausamkeit gegenseitig zu überbieten versucht hatten.
Karen verwünschte den Tag, an dem sie die verschlossene Tür mit der Inschrift »Jude« geöffnet hatte, denn hinter dieser Tür war der Tod. Es verging kaum ein Tag ohne eine weitere Bestätigung, daß noch einer ihrer Verwandten umgekommen war.
Massenmord — ausgeführt mit der Präzision einer Maschine. Anfangs waren die Methoden noch primitiv. Die Opfer wurden erschossen. Dann entwickelte man Wagen, in denen die Häftlinge auf der Fahrt zum Massengrab vergast wurden. Doch auch diese Gaswagen arbeiteten nicht schnell genug. Als nächstes erdachte man Verbrennungsöfen und Gaskammern, in denen innerhalb einer halben Stunde zweitausend Menschen umgebracht werden konnten; das ergab in einem der größten Lager an »guten« Tagen zehntausend Tote. Die Organisation und die Methode erwiesen sich als wirkungsvoll, und die Ausrottung nahm planmäßig und in großem Maßstab ihren Verlauf.
Karen hörte von Tausenden von Gefangenen, die sich selbst in den elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun geworfen hatten, um so den Gaskammern zu entgehen.
Karen hörte von Hunderten, ja Tausenden, die von Hunger und Seuche angefallen wurden und deren ausgemergelte Körper, zwischen die man Holzscheite gelegt hatte, dann in Gräben geworfen und mit Benzin begossen worden waren.
Karen hörte von dem Täuschungsmanöver, das man veranstaltete, um kleine Kinder ihren Müttern zu entreißen, indem man eine Umordnung des Lagers vorschützte. Sie hörte von Zügen, in die Alte und Schwache, eng aneinandergedrängt, geworfen wurden. Karen hörte von den Entlausungskammern, in denen man den Gefangenen Seifenstücke in die Hand gegeben hatte. Die Räume waren Gaskammern und die Seife war aus Stein.
Karen hörte von Müttern, die ihre Kinder in den Kleidern versteckten, die sie an Haken hängen mußten, ehe man sie in die Gaskammern führte. Aber die Deutschen kannten den Trick und fanden die Kleinen immer.
Karen hörte von Tausenden, die nackt neben den Gräbern knieten, die sie selbst gegraben hatten, von Vätern, die ihre Hände über die Augen der Söhne legen mußten, wenn Deutsche ihnen mit Pistolen den Genickschuß gaben.
Sie hörte von SS-Hauptsturmführer Fritz Gebauer, der sich auf das Erdrosseln von Frauen spezialisiert hatte und der gern zusah, wenn
Kinder in Fässern mit Eiswasser erfroren.
Sie hörte von Heinen, der eine Methode erfand, wie man mehrere Leute in eine Reihe aufstellen und durch eine einzige Kugel umbringen konnte. Er versuchte von Mal zu Mal, seinen eigenen Rekord zu überbieten.
Sie hörte von Franz Warzok, der Wetten darüber abschloß, wie lange ein menschliches Wesen am Leben bleibt, wenn man es an den Füßen aufhing.
Sie hörte von Obersturmbannführer Rokita, der Körper in einzelne Teile zerriß.
Sie hörte von Steiner, der die Köpfe und Bäuche von Gefangenen durchbohrte, ihnen die Fingernägel herausriß und die Augen herausdrückte und der gern nackte Frauen bei den Haaren faßte und sie im Kreis herumschleuderte.
Sie hörte von General Franz Jächeln, der das Massaker
Weitere Kostenlose Bücher