Exodus
solche
kleinen Geheimnisse. Bäh, fuck! Als wir klein waren, haben wir
immer versucht, sie zu finden und die Scheiße kaputtzumachen.«
»Ich
will mein Leben sinnvoll gestalten. Schlafen, Gymnastik, kalt
Duschen, Frühstücken, Spazierengehen, Lesen, gesundes
Mittagessen, Revolution, Sport, leichtes Abendessen, leichter Sex,
eine Zigarette, um elf Uhr Schlafen.«
Wir
sitzen in einem halbverfallenen Holzhaus mitten in der Fremde, vor
dem Fenster Massen von Schnee. Dieses Haus ist als einziges erhalten
geblieben, es stammt aus dem 19. Jahrhundert, früher sah die
ganze Stadt so aus. In diesen Mehrfamilienholzhäusern lebten die
Familien der Arbeiter von Stahlgießereien und Waffenfabriken.
1918 machten sie, direkt nach den Russen, ebenfalls einen roten
Aufstand, bewaffneten sich bis an die Zähne, die Stadt wurde zum
Zentrum der Revolution. Die Regierungstruppen hatten Angst, die Stadt
zu stürmen, stattdessen stellten sie Fernkampfbatterien auf die
Hügel und brannten sie nieder. Von den alten Holzbauten blieb
nur dieses Haus erhalten, ein historisches Denkmal. Es wird nicht
abgerissen, jetzt wohnt hier, wer grad kommt.
»Ljoscha,
was würdest du denn tun, wenn es wieder Krieg gäbe, wenn
die Weißen kämen? Würdest du kämpfen?«
»Ja.
Klar. Ich würde für die Roten kämpfen.
Selbstverständlich. Mit Gewehr, mit allem drum und dran. Was
denn sonst?«
Ljoscha
hat noch eine Tätowierung auf der linken vorderen Schulter.
Riesige blaue Buchstaben: Time kills . Er hat sie sich selbst
reingehauen, teils mit einer Gitarrensaite, teils mit Nadeln. Als er
noch an der Wolga lebte, auf dem Höhepunkt jener denkwürdigen
Ereignisse, bei denen die Armee zur Niederwerfung gerufen wurde,
lebte er mit einem Mädchen zusammen, das ihn sehr liebte. Sie
lebten und waren ziemlich glücklich, doch dann kam plötzlich
ihr Bruder ums Leben, und ihre Mutter, eine sehr gläubige Frau,
überzeugte das Mädchen, dass das passiert sei, weil sie mit
Ljoscha in Sünde lebt. Sie tat Buße und ging ins Kloster.
Ljoscha drehte voll am Rad, fuhr ihr hinterher, lebte beim Kloster,
bekniete sie zurückzukommen. Aber sie war schon voller
orthodoxer Inbrunst und erklärte, dass sie ihn nicht mehr sehen
wolle. Im Delirium, im Wahn kehrte Ljoscha in die Stadt zurück
und ging schnurstracks zu ihrer Mutter, um sie anzubrüllen.
»Beruhige dich, Alexej, es ist alles vorüber. Jetzt wird
alles gut für sie. Und für dich wird auch alles gut, wird
alles genesen. Die Zeit heilt.«
»Fuck,
die Zeit heilt nichts, die Zeit tötet!«
Später
verließ das Mädchen das Kloster und wurde heroinabhängig.
Ljoscha hatte zu der Zeit Russland schon verlassen.
Anja
ist mich besuchen gekommen, angemalt wie eine Matrjoschka. Wir sitzen
in Badelatschen auf der Veranda in dem verfallenen Haus auf dem Berg.
Unten liegen die südliche Stadt und das Meer, es nieselt, es ist
kühl. Lange schweigen wir, wir sind sehr froh, dass wir uns
endlich verpisst haben.
»Eine
Bekannte von mir hatte einen Hund, der immer klang, als würde er
lachen. Wenn man bei ihnen zu Besuch war, kam er gleich zur Tür
und freute sich so ... so aufrichtig, als würde er lachen. Er
war schon alt, und der Arzt sagte, dass er sich nicht so doll freuen
dürfe, er sei zu emotional. Und so sperrten ihn die Besitzer im
Zimmer ein, bevor Besuch kam, damit er sich nicht gleich so heftig
freute. Trotzdem war er sehr heiter, innerlich zerriss es ihn
förmlich vor Freude, wenn er Menschen sah. Und einmal blieb sein
Herz stehen – so sehr freute er sich.«
Der
Herr ist mein Hirte. Er weidet mich auf einer grünen Au und
führet mich zum frischen Wasser. Er gibt mir Essen und Kleidung,
mir wird nichts mangeln. Er bewahrt mich vor Angst und Versuchung,
amputiert mir verfaulte Glieder, lässt mich nicht auf Abwege
geraten. Lässt mich keine Pause machen, lässt mich nicht
entspannen, weckt mich und jagt mich auf unbekannte Wege. Er stählt
und lehrt mich, bestraft mich oft, verzeiht mir immer. Er nötigte
mich, viele Werst zu gehen, vieles zu überwinden, Unnötiges
abzulehnen und Überflüssiges zu vergessen. Er verzehrt
mich, macht mich leichter, durchsichtiger, salbt meinen Körper
mit Öl und Kräutern, richtet ihn für die Beisetzung.
Nun, selbst wenn ich schon wanderte im finstren Tal, fürchte ich
kein Unglück, denn mein Gott ist immer bei mir, Sein Stecken
tröstet mich, Seine Keule beruhigt mich.
Natürlich
war Fedja reif. Vielleicht war er schon fast reif, bevor wir uns
kannten, aber zum Schluss
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