Exodus
zieht auch den
100-Kilo-Kolja mit.
In
diesem Moment fiel auch in mir etwas um. Ich drängelte mich
instinktiv durch die Menge durchgedrehter Mütter, instinktiv
griff ich mir Kolja und zog ihn heraus und jagte ihn instinktiv aus
dem Klub. »Märchen wolltet ihr? Verfickte Märchenerzähler!
Hier kriegt ihr euer Märchen, im Blut werdet ihr alle baden,
verstanden!«, brüllte Kolja mit einem wahnsinnigen Blick
in den Saal, während Ruslan und ich ihn rausschleiften. Es
stellte sich heraus, dass ihn der Kerl unsanft angequatscht hatte,
irgendwas Falsches gesagt hatte, tja, und da hat er es ihm gezeigt.
Später, nach der Party, angelte sich Kolja den Kerl und zwang
seine Frau, ihm als moralische Entschädigung tausend Rubel zu
zahlen, die er umgehend mit gerade rechtzeitig auftauchenden Kumpels
versoff. Zu diesem Zeitpunkt war ich schon weg.
Die
Szene blieb mir lange im Gedächtnis. Gut, dass kein Kind
zertreten wurde. Aber in mir ist in dem Moment aus Schwermut etwas
umgefallen. Denn all das, jeder Schlag von Koljas Hand, war
unausweichlich, fatal, absehbar. Es musste einfach passieren. Ich
erwartete es aus tiefster Seele – und da war es, vor meinen
Augen. Gott sagte mir: Schluss, es reicht. Das war genau so
barbarisch und unabwendbar wie alle unsere Aktionen der letzten
Jahre. Das war einfach nur verfickter Scheiß.
Wir
stehen alle in der Bahnhofshalle, sind in nervöser, gehobener
Stimmung, wie wir es alle lieben. Nur nahe Freunde sind da und
einige, die den Ausbrechern Geld geben wollen. Es ist nicht viel
zusammengekommen, aber es wird reichen – auf der anderen Seite
werden sie von genug Leuten erwartet, von genug guten Typen. Die
Tickets haben wir mit fremden Pässen gekauft, in diesem Zug wird
das niemand merken. Bis zur Abfahrt ist noch Zeit, keiner trinkt, wir
stehen einfach alle zusammen rum und denken an alles Mögliche,
an die fröhliche Seite des Lebens. Es ist ein angenehmes Gefühl,
etwas Großes endet, etwas Neues beginnt, ein Vorgeschmack von
Abenteuer, ein neuer Schritt in der Karriere des Lebens. Auf und ab,
und gut, wenn es nicht wehtut.
Der
Zug rollt ein, wir gehen zum Waggon. Letzte Adressen, Telefonnummern,
Abmachungen, Kennwörter, Witze, Gerede. Wir sehen uns im Neuen
Jahr, zum Glück ist der Weg nicht weit. Und Tschüß.
Ruslan
und ich laufen über den nächtlichen Bahnsteig zurück
zum Bahnhofsgebäude. Es ist kalt und hell von den grellen Lampen
und Kiosks.
»Und
du jetzt auch bald ...«
»Ja,
ich auch, wahrscheinlich in einer Woche. Weißt du, das ist wie
die letzten Sekunden eines guten Abenteuerfilms. Das Schlussbild,
eine Landschaft, irgendwas Versöhnliches, angenehme Musik. Noch
einen Moment, dann wird es dunkel, und der Abspann kriecht langsam
die Leinwand hoch.«
Es
fiel dicker Schnee. Nacht. Ich stand auf der Treppe vor dem
Grenzkontrollgebäude und schaute, wie die Schneeflocken langsam
fallen. Auf der anderen Seite – ich stand schon auf der anderen
Seite. Mein Gott, sie haben mich rausgelassen, alles vorbei. Tja, im
Prinzip mussten sie mich rauslassen, ich stand weder auf der
landesweiten noch auf sonst irgendeiner Fahndungsliste. Aber all das,
alles, was ich hinter mir gelassen hatte, hatte ziemlich beängstigend
ausgesehen. Ich war sehr froh. Ein hübsches Mädchen hinter
Panzerglas hatte mir den Stempel in den Pass gesetzt, ich machte ein
paar Schritte und war hier, draußen, in der Freiheit. Im weiten
Kosmos. Er lag jetzt in Gänze vor mir, dunkel, kalt, sich in
endlose Ferne erstreckend. Und ich hatte für die ganze Galaxis
nur meine Tasche und eine Telefonnummer. Kein Geld, keine Aufgaben,
keine Kontakte, nichts, am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde.
Ein großes Abenteuer.
»Ziehe
aus aus Ägypten, denn dort herrscht Finsternis«, hatte Er
zu mir gesagt, und ich habe Ihm erleichtert gehorcht. Irgendwo hinter
mir, tausend Kilometer entfernt, stürzte ein riesiges,
tausendköpfiges Ungeheuer los, seine Millionen Augen suchten
mich, seine Milliarden Zähne wollten mich packen. Es blies mir
in den Nacken, ich spürte seinen Atem. Und eilte nach der
Passkontrolle schnell zu dem herannahenden Reisebus.
Ich
hatte Ljoscha vor vielen Jahren zum ersten Mal getroffen. Er war
damals schon emigriert, hatte eine Ausländerin geheiratet, hatte
sich neue Leute für eine Band zusammengesucht und tourte mit
ihnen durch Russland. In dem Saal, in dem mittlerweile die
Hippie-Weihnachtsfeiern stattfinden, drängten sich zweihundert
Leute, es gab keine Bühne, die Anlage
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