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Exodus

Exodus

Titel: Exodus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: DJ Stalingrad
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er den Menschen entgegenbrachte,
mit dem Mitleid, das er hatte, wenn er mit uns allen litt. Ob wir
wohl irgendwann würdig mit ihm Mitleid haben können? Ich
weiß es nicht.
    Nach
Fedjas Tod, am übernächsten Tag, rief mich plötzlich
Mischa an. Wir hatten mehrere Jahre nichts voneinander gehört,
er war damals sauer auf uns gewesen, hatte seine Telefonnummer
geändert und war nicht mehr aufgetaucht. Er sagte, dass er heute
beim Anschauen alter Fotos geheult hätte. »Wie konnte das
nur passieren. Wir hätten doch schon vor drei Jahren damit
aufhören können, jederzeit hätten wir aufhören
können. Damals, als klar wurde, dass all das ein einfaches
Ticket war und es keine Rückfahrt geben würde, haben wir
uns ja noch getroffen und lange gestritten, wie es weitergehen soll.
Kolja und ich waren dafür, was anderes zu machen, doch Fedja
hielt dagegen, er sagte, dass man es nicht dabei belassen dürfe.
Aber was wäre, wenn wir damals aufgehört hätten? Fedja
wäre noch am Leben, all die Jungs wären noch am Leben,
alles wäre anders. Das denke ich die ganze Zeit.«
    »Ja,
das ist alles beschissen. Ich spüre jedes Mal Schuld, wenn in
Moskau oder sonstwo ein Typ umkommt. Das ist schlimm. Aber, Misch,
ich weiß nicht. Ich weiß nicht, wann wir hätten
aufhören sollen. Und Fedja wusste es auch nicht. Wann soll man
denn passen wie beim Poker, wann die Karten hinwerfen? In welchem
Moment? Nach welchem Mord? Ich weiß es nicht.«
    Wir
kamen zu Fedja gerast, da waren schon haufenweise Bullen da, lachten,
rissen Witze, begrapschten alles. Mir gingen die Nerven durch, ich
brüllte sie an, begann fast eine Schlägerei mit dem Chef.
Sie riefen die Streife, legten mich in Handschellen und brachten mich
aufs Revier. Außer mir saßen noch zwei Streifenbullen aus
dem Stadtteil im Auto. Sie hatten noch nicht kapiert, was los war,
und tauschten Gerüchte aus.
    »Die
Chatschis haben wohl einen Skin niedergemetzelt. Jetzt sieht es für
die Kaukasier im Stadtteil finster aus. Er wurde in die Leichenhalle
gebracht. Ich sag dir, der ganze Körper mit Tattoos übersät.
Hakenkreuze, Totenköpfe, Adler, alles, wie es sich gehört
...«
    In
Wirklichkeit hatte Fedja ganz andere Tattoos. Auf dem Arm ein Herz,
einen Vogel, eine Klinge und den Schriftzug: Liebe deinen
Nächsten .
    Kälte.
Schnee, Licht, knallrotes Blut auf kaltem Schnee. In Moskau hat ein
Idiot Stas erschossen, den fröhlichen Anwalt. Hat geschossen,
ist zur Metro gerannt und über die Drehkreuze gesprungen, weil
sein Ticket nicht funktionierte ... Alle meine Bekannten haben sich
Gummigeschoss-Maschinenpistolen gekauft und Waffenscheine besorgt.
Macheten und Dolche namens Tarzan gehören der
Vergangenheit an. Alle haben ihre Arbeit verloren, die
Lebensmittelpreise haben sich verdoppelt, der Präsident sagt:
Wir dürfen nicht lockerlassen. Dabei wäre es längst an
der Zeit lockerzulassen ...
    »Ich
bin schon immer gern gereist. Letztes Mal, als ich auf diesem Schiff
war, hatte ich noch zwanzig Cent. Ich hab sie in einen Automaten
gesteckt und fünf Euro gewonnen. Jetzt hatte ich nur noch zehn
Cent, ich konnte nicht mal spielen, aber das Schicksal schickte mir
als Reisegefährten einen mormonischen Priester. Gott gibt uns
Chancen.«
    »Auf
jeden Fall«, stimmt mir Rod zu, mein Nachbar im
Gemeinschaftsschlafsaal der niedrigsten Klasse auf dem riesigen
Schiff. »Ich war mit meinen Klappstullen nicht Ihr zufälliger
Begleiter und Sie mit Ihren spannenden Geschichten über Ihre
religiösen Pilgerfahrten zu heiligen Orten waren für einen
älteren Priester auch kein Zufall. All das ist Schicksal, Gott
gibt uns Chancen.«
    Hm,
ich fahre nach Hause. Alles wird schlecht.
    ***

»Shenja,
wir sind Hobbits. Du weißt doch noch, in dem Film, am Ende
segeln sie mit den Elben gen Westen und sagen ihren Freunden Lebewohl
... Wir sind jetzt Hobbits.«

Backstage
    1 – In der ersten Hälfte meines Lebens habe ich nichts kapiert. Ich wuchs auf, umgeben von Regalen voll mit Büchern und wissenschaftlichen Zeitschriften, und kapierte nicht, warum mein Großvater, ein Professor, bettelarm war, warum meine Altersgenossen Klebstoff schnüffelten und Gangster werden wollten. Auf der Straße drehten sich die Leute für einen letzten Rubel den Hals um, und ich verkroch mich in die Welt der Bücher, versuchte, sie nicht zu verlassen. Doch bei dem Einkommen meines Großvaters war das nicht möglich – ich musste raus, und jedes Mal war es ganz schlimm. Nicht nur bekam ich eins in die Fresse, scheinbar

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