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Exodus

Exodus

Titel: Exodus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: DJ Stalingrad
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kriegte jeder eine rein, Kinder wie Erwachsene. Niemand brachte was zustande, alle waren Versager, und über dem endlosen Sumpf der Armut herrschten die vollgefressenen Aasgeier: Gangster und Bullen. Die Kinder kämpften sich wie die Erwachsenen durch diesen Sumpf, versuchten aus ihm herauszukriechen, doch keiner schaffte es, alle stürzten blutend wieder hinein. Arme Menschen. Und ich war ebenso arm.
    Dann kapierte ich es plötzlich, als hätte es mir jemand eingeflüstert. Man muss einfach alle zusammenschlagen. Einfach alle zusammenschlagen. Sich keine Geschichten anhören, keine Schulterstücke oder Hierarchien beachten – einfach zuschlagen. Das war die Sprache, die allen gefehlt hatte. Und siehe da: Es funktionierte. Jeder kleine Scheißer, Bandit, Nazi, Bulle oder schlicht Grobian, der ohne Gerede eins in die Fresse bekam, wurde plötzlich verständig – als würde in seinem Kopf für ein Moment ein scheiß Teufelskreis durchbrochen. Für Sekunden sah er die Dinge in einem neuen Licht – und wir verhalfen ihm dazu. Wir leisteten großartige Erziehungsarbeit an den Russen, an Jungs, die sich die ganze Zeit sehr schlecht benahmen, denen der Weihnachtsmann keine Geschenke brachte.
    Es ging um Nazis. Alle Subkulturen dieser Jahre wurden auf der Straße von Nazigruppen kontrolliert. Es gab zehntausende alleine in Moskau, und was anderes existierte nicht. Das passte uns natürlich nicht: Adolf Hitler, das Dritte Reich, die Juden als der böse bourgeoise Abschaum. Am meisten stieß uns an den Nazis ab, dass sie so perfekt in die russische Realität passten – genau so zog das neue Russland seine in die Zukunft strebenden Sprösslinge heran: gierig, dumm, böse. Nazi zu sein war cool, in jugendlichen Kreisen gehörte es zum guten Ton. Viele gingen als Erwachsene zur Miliz und machten dort Karriere. Es war ekelhaft, und wir fingen ohne eine Spur des Zweifels an, sie zusammenzuschlagen – so begann es.
    2 – Wir Jungs hörten Hardcore-Punk und fuhren unglaublich gerne mit einer Band, die wir persönlich kannten, auf Tournee in kleine Städtchen rund um Moskau. Das war natürlich immer eine Art Militäroperation, in den seltensten Fällen schafften wir es bis aufs Konzert. Die Schlägereien mit Nazis und Gangstern aus der jeweiligen Gegend begannen gewöhnlich schon in den Vorortzügen, den sogenannten Elektritschkas, und dauerten bis zum Schluss der Reise. In Russland gab es echt viele Nazis und kleine Gangster, man traf sie in Gruppen, wohin man sah. Es ging hoch her.
    Die Kinder von Bullen hassen Bullen – so hieß ein Lied unserer befreundeten Band. Wenn im Saal ein Bulle war, zum Beispiel als Wachmann des Klubs, griff er, wenn das Lied erklang, zum Funkgerät und rief eine OMON-Spezialeinheit. Danach begann die echte Show.
    3 – Wir wollten immer zumindest ein bisschen am politischen Leben teilhaben, an Paraden oder Demonstrationen. Doch leider gab es Anfang des Jahrtausends in Russland nicht eine einzige linke Jugendbewegung. Bei Nazi-Umzügen versammelten sich Tausende – die linke Bewegung dagegen bestand allein aus schwachsinnigen stalinistischen Greisen oder Freaks mit unbegreiflichen Ansichten. Davon gab es allerdings ziemlich viele, und so marschierten alle gemeinsam an jedem 1. Mai, zum alten sowjetischen Tag der Arbeit und des Frühlings, als ungeordneter Haufen vom Lenin-Denkmal zum Karl-Marx-Denkmal. Aufgrund mangelnder Alternativen amüsierten wir uns, indem wir ihnen Gesellschaft leisteten.
    Aus dem Gemenge roter Flaggen und alter Leute stach die schwarze Kolonne der in diesen Jahren populären Nationalbolschewistischen Partei heraus. Das war noch so ein Bastard, hervorgebracht von dem schrecklichen Bruch im Bewusstsein vieler Russen: der Kluft zwischen ihrer feinen Bildung und der Dunkelheit ihres realen Lebens. Die Ideologie dieser seltsamen Bewegung vereinte Faschismus und Sozialismus. Hitler und Stalin, Hakenkreuz und Hammer und Sichel verschmolzen im Bewusstsein des Parteiführers, des Schriftstellers Eduard Limonow, in phantasmagorischer Ekstase. Unverständlich, intellektuell, brutal – das genügte, um Tausende wie mich anzuziehen, magere Bürschchen aus gebildeten Familien. Viele von ihnen buchtete man später für die Teilnahme an solchen Versammlungen ein, für fünf, sieben, zehn Jahre.
    Auf diesen roten Märschen amüsierten wir uns, so gut wir konnten. Wir brüllten absurde Losungen, priesen Stalin, kotzten – wir waren sowieso fast nur von Verrückten umgeben. Sieben Jahre

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