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Exodus

Exodus

Titel: Exodus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: DJ Stalingrad
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Tieren ... Der Finger des Schicksals wird uns
ununterbrochen drücken, bis er uns plattdrückt und die
Gedärme aus uns rausquellen.
    Wenn
du arm bist oder erbärmlich, bleibt dir nur, alles auf eine
Karte zu setzen. Alles, was wir all die Jahre gebracht haben, waren
hohe Einsätze. Das ist eine zuverlässige Strategie, Jungs
in der Dritten Welt saugen den Sinn des Spiels schon mit der
Muttermilch auf, ich selber habe es in der Schule gelernt, aus dem
Buch ­ Hagakure . Das Leben ist eine Pokerrunde und du hast
ein totales Scheißblatt. In dieser Situation ist es richtig,
vabanque zu spielen, alles zu setzen. Es bleibt dir immer ein letzter
Chip, den du bis zum Schluss nicht verlieren wirst: Dein Leben, und
das setzt du wieder und wieder, und die Gegner passen und schmeißen
die Karten hin. Das ist ein sicherer Weg, um bis zu einem bestimmten
Punkt einen ordentlichen Batzen zu gewinnen. Doch einmal werden sie
dich beim Bluffen erwischen und umlegen. Das ist unausweichlich. Aber
generell gilt, wenn man jeden Tag morgens und abends betet, kann man
sich ganz schön lange im Spiel halten. Diese Strategie ist die
zuverlässigste für Versager, ich kenne einen Haufen
Beispiele.
    Ein
Freund hat mir eine Windjacke geschenkt, also nicht geschenkt,
sondern geborgt, für ein Auswärtsspiel, damit ich nicht so
beschissen aussehe wie sonst. Das ist ein Riesenproblem, ich verstehe
gar nichts von Kleidung, trage alte Klamotten von Verwandten auf,
stopfe Socken, schmeiße Schuhe erst weg, wenn die Sohle
abfällt. Und jetzt musste ich zu einem wichtigen Auswärtsspiel
nach Minsk und hatte die Anweisung, mehr oder weniger auszusehen.
Also bekam ich diese blaue Duffer-Windjacke mit Kapuze, eng
anliegend, ohne Taschen. Auf dem Logo vier D s, verbunden zu
einer Swastika.
    Der
Tag des Sieges. Klarer Himmel, die Sonne brennt, die Pflastersteine
eben wie auf einem teuren Friedhof oder in einer antiken Totenstadt.
Alles geputzt, gigantische Bauten aus Stein, übermächtiger
Beton. Fünfzig Mann durchqueren das Zentrum, brüllen,
lärmen, lachen. Nervöses Treiben, die Euphorie der
Verdammten, wie wir es lieben. Die ganze Stadt hasst uns, die Mauern
der kommunistischen Hauptstadt winden sich in Ringen um uns, über
die breiten Prospekte schreiten glückliche Familien, Kinder
zeigen verängstigt mit Fingern auf uns. Bullenwannen rasen
vorbei, sie sind nicht in der Lage, sich gegen das zu behaupten, was
hier in ein paar Minuten geschehen wird. Wir biegen von einem
Prospekt Richtung Stadion ab, Lukaschenko ist nicht bereit für
ein Treffen mit seinen wilden Gästen. Wir gehen die Straße
hinunter, vorne sieht man schon die Kassen.
    Um
eine Ecke strömen, Welle um Welle, Massen von Hooligans, alle
sind da, Moskauer, Leute aus Brest, von hier, sie alle wollen uns ein
für alle Mal abservieren. Ein Haufen von zweihundert Mann rollt
in endlosen Wogen auf uns zu. Von hinten hör ich, wie Kolja
brüllt: »Wir sind am Arsch!« Das ist das Signal zum
Angriff. ­Fedja stürzt sich alleine mitten in ihre Reihen,
wir hinterher. So eng ist es, dass man nicht zum Schlag ausholen
kann, ich verhake mich mit einem, in der nächsten Sekunde
krachen wir schon zusammen in einen schwarzen Abgrund. Auf der Straße
Bauarbeiten, überall aufgerissener Asphalt, neben dem Fundament
eines Hauses sind tiefe Baugruben ausgehoben. Genau dort treffen die
beiden Horden aufeinander, die ersten Reihen ziehen Schicht für
Schicht in die Hölle. Der Kerl zappelt hektisch und zerreißt
mir die neue Jacke, wir entlassen einander nicht aus der feindlichen
Umarmung, wälzen uns in die Grube und können nicht ganz
runterfallen, weil wir in einem Knäuel mit zehn anderen
verknotet sind. Wir beißen einander, bleiben kopfüber im
Graben stecken, über uns zwei weitere Schichten von Menschen,
die Ruslan und unsere Jungs noch tiefer hineintreten, unter uns, am
Grunde des Betonbeckens, hat Viktor, wissenschaftlicher Mitarbeiter
am biologischen Institut, sich mit eisernem Griff irgendeinen
Schläger gepackt und drückt ihm ein Auge aus. Minsk City,
2006.
    Jetzt
trage ich die Duffer-Jacke wieder, ich bin in meiner einzigen
anständigen Jacke hergekommen, obwohl sie mittlerweile nicht nur
Löcher aus Minsk hat, sondern auch aus Kiew und aus Rjasan ...
Die Jungs ärgern mich damit.
    Das
Bild sehe ich schon lange, habe es vor Augen, es führt ein
Parallelleben. Es ist kein Traum, beim ersten Mal war ich hellwach,
als ich es mir vorstellte, es trat so schnell in mein Dasein, so
leicht, als wäre

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