Exponentialdrift - Exponentialdrift
noch das heute -Magazin, um ganz sicher zu gehen, dann fing ich an zu schreiben. Um 21:40 war ich fertig, und um 21:44 ging die Folge an die FAZ. Ich näherte mich der Echtzeit immer weiter an.
Doch inzwischen spürte ich auch, daß ich Probleme mit der Story bekommen würde, wenn ich nichts unternahm. Der Schwung des Anfangs trug mich noch, aber sehr lange würde er mich nicht mehr tragen und vor allem nicht mehr sehr weit, wenn ich mir nicht überlegte, wo ich überhaupt hin wollte. Bernhard Abel war wach, hatte das zunehmende Gefühl, nicht er selbst zu sein, um ihn herum war allerhand Soap Opera im Gange, und in Folge 7 hatte ich mit Arpa eine geheimnisvolle Figur eingeführt, die eigentlich dafür vorgesehen war, meine Hauptfigur über ihre wahre Natur und die Hintergründe des Ganzen aufzuklären. Doch was sollte danach geschehen?
Zunächst zeigte sich, daß Arpa nicht daran dachte, das zu tun, was ich mit ihm vorhatte. Die Eigenmächtigkeiten vonFiguren ist ein Phänomen, das Schriftsteller sehr häufig erwähnen, und ich vermute mal, daß es kaum etwas geben dürfte, was bei normalen Menschen mehr Unverständnis und Kopfschütteln auslöst. »Hallo?!«, möchte man demjenigen zurufen, der behauptet, machtlos zu sein gegen die Figuren, die er selbst geschaffen hat, » aufwachen! Du schreibst diese Typen – schon vergessen? Du selber tippst jeden einzelnen Buchstaben von jedem einzelnen Wort, mit deinen eigenen Fingern auf deiner eigenen Tastatur. Wo ist das Problem? Tipp einfach andere Buchstaben, und du kriegst andere Wörter. Und hör auf zu heulen.«
Aber so einfach ist das eben nicht. Man wird beim Schreiben bestimmt von einem überwältigenden Drang nach innerer Konsistenz. Es ist Ziel des Schreibens, Figuren zu erschaffen, die »stimmen«, die zu leben scheinen – ein Eindruck, den man sofort zerstört, wenn man eine Figur anders handeln läßt, als es ihr nach dem, was man bis dahin von ihr erfahren hat, entspricht. Natürlich kann man »andere Worte schreiben« und damit eine Figur, die wir als ängstlich und vorsichtig kennengelernt haben, plötzlich mutig und kämpferisch in den von fleischfressenden Kobolden bevölkerten Keller hinabsteigen lassen. Aber durch diese Aktion wird sie zum Pappkameraden ohne eigenen Antrieb degradiert, der Leser spürt die Machenschaften des Autors und legt das Buch gelangweilt beiseite.
Oft sind es Kleinigkeiten, die ungeahnte Folgen haben. Angenommen, man erzählt, ohne sich etwas dabei zu denken, beim ersten Auftauchen der Figur im Roman, sie liebe Blumen. Einfach, weil man irgend etwas schreiben muß. In dem Moment hat das noch überhaupt keine weitere Bedeutung, man hätte genausogut behaupten können, sie liebe Himbeereis oder elektrische Eisenbahnen oder den Geruch von Kernseife. Doch zweihundert Seiten weiter steht, sagen wir, eine Verfolgungsjagd an, unsere Figur verfolgt einenBösewicht in einen Blumenladen, den wir hundert Seiten vorher in einem völlig anderen Zusammenhang und ohne irgendeine Verbindung zu der Charakterisierung unserer Figur erwähnt haben – vielleicht haben wir an dem Tag zufällig Blumen gekauft oder welche bekommen und sind dadurch auf die Idee gekommen –, doch jetzt merken wir, daß die ursprünglich absichtslos erwähnte Liebhaberei plötzlich sehr wohl eine Bedeutung bekommt. Vielleicht wird unsere Figur zögern, den Bösewicht über den Haufen zu schießen, weil der auf die Kübel mit all den herrlichen Rosen und Azaleen fallen könnte. Vielleicht wird unsere Figur abgelenkt, weil sie plötzlich eine Orchidee entdeckt, die sie schon seit Jahren sucht, und der Schurke nutzt den Moment der Unaufmerksamkeit und flieht. Der springende Punkt ist, daß in dieser Situation ihre Liebe zu Blumen in irgendeiner Form zum Ausdruck kommen muß, weil sonst die ursprüngliche Beschreibung sinnlos und die Konsistenz zerstört würde. »Wie bitte«, würde der Leser nämlich zu Recht fragen, »angeblich liebt der Kerl Blumen, und trotzdem richtet er ein Massaker unter Tulpen an? Da stimmt doch was nicht.«
Was also wird man tun? Entweder gestaltet man die Verfolgung so um, daß die Zuneigung der Figur zu Blumen zum Ausdruck kommt, oder man geht zurück und ändert die Voraussetzungen. Wenn die Figur statt Blumen türkischen Honig liebt, kann sie in einem Blumengeschäft kalten Herzens umherballern, soviel sie will. Oder wir machen aus dem Blumengeschäft einen Zeitschriftenkiosk. Je nachdem, was besser paßt.
Aber passen muß es. Und das
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