Exponentialdrift - Exponentialdrift
1. Juni, las ich in besagter Übersicht, war das Vorrundenspiel zwischen Deutschland und Saudi-Arabien angesetzt. Logisch, daß das in der für Sonntag, den 2. Juni, vorgesehenen Folge 36 eine Rolle spielen mußte. Bloß welche? Die Folge mußte zwei Tage vor dem Spiel in Frankfurt sein, würde aber erst am Tag danach erscheinen – sollte ich etwa eine Vorhersage wagen? Ich?!
Ich studierte die diversen Prognosen ausgewiesener Experten. Die saudi-arabische Mannschaft war dreimal Asien-Meister geworden und galt als ernstzunehmender Gegner. Einige bezweifelten, daß mehr als ein Unentschieden für die deutsche Nationalmannschaft drin war.
Was tun? Nach einigem Grübeln kam mir die glorreiche Idee, die Folge nicht am Sonntag spielen zu lassen, sondern am Samstag, und zwar vor dem Anpfiff der Partie: Auf diese Weise war ich aller Sorgen um das Endergebnis enthoben.
Wie sich zeigen sollte, war das eine weise Entscheidung, denn die deutsche Mannschaft besiegte die Saudi-Araber bekanntlich mit nie zuvor dagewesenen 8:0 Toren. Heute ärgere ich mich natürlich, daß ich das Spiel nicht gesehen habe. Ich hörte den Nachmittag über an meinem Schreibtisch lautes Gegröle von draußen, dachte mir aber nichts dabei, und erst abends erfuhr ich das Ergebnis. (Im Lauf der folgenden Wochen erfaßte mich das Fußballfieber übrigens schließlich doch noch. Ab dem Spiel gegen Kamerun schaute ich mir alle Spiele der Nationalmannschaft an, und kurz vor Ende der WM hielt ich es sogar für beinahe möglich, daß Deutschland Weltmeister werden könnte.)
Am 3. Juni und den folgenden Tagen, also in der Zeit, in der die Verschwörer auf eine Reaktion auf ihr gefälschtesSignal warteten, sammelte ich eifrig Nachrichten für die nächste Folge. Dankenswerterweise unterstützte mich die Politik mit prägnanten Schlagzeilen. Herr Möllemann entfachte dramaturgisch geschickt einen offenen Machtkampf in der FDP, der Nitrofenskandal tauchte auf und weitete sich aus – auf die Bombenanschläge in Israel hätte vermutlich nicht nur ich gerne verzichtet.
Außerdem hatte ich im Internet die Website des Radioteleskops von Arecibo ausfindig gemacht, auf der nachzulesen war, was dort in den Tagen um den 3. Juni herum tatsächlich gemacht wurde: Ein Team von drei Wissenschaftlern namens Stinebring, Cordes und McLaughlin verfolgten ein Projekt, das unter der Codenummer P1598ds lief und unter dem Titel Multi-wavelength behavior of pulsar scintillation arcs.
All das verwob ich in die Folge 37, die damit vermutlich zur aktuellsten der gesamten Serie wurde.
11
Abpfiff
D A WIR VORHIN davon sprachen, daß Romanfiguren ein Eigenleben entwickeln können: In einem Fortsetzungsroman kann es außerdem vorkommen, daß Figuren in Vergessenheit geraten. So war etwa der Geschäftsführer des Pflegeheims, Eberhard Lembeck, eine Figur, die ich sorgsam ausgearbeitet hatte, bis hin zu seinem Lebenslauf und den verborgeneren Aspekten seiner Persönlichkeit – doch nach einem Auftritt in Folge 2 verschwand er erst einmal in der Versenkung. Ich hatte ihn als Widerpart für den Neurologen Jürgen Röber gedacht, aber der ging seine eigenen Wege,wandelte sich im Lauf der Handlung zu einer der Hauptfiguren, was so auch nicht unbedingt geplant gewesen war. Ein ähnlicher Fall ist die Pflegerin Irene Kocic, die in Kapitel 2 erwähnt wird und in Kapitel 3 auftrat. Ich hatte die vage Vorstellung einer Affäre zwischen ihr und Bernhard Abel, aber es ist vielleicht ganz gut, daß daraus nichts wurde.
Irgendwann fiel mir auf, daß ich von diesen beiden schon lange nichts mehr gehört hatte. Gut, ich gebe zu: Sie waren entbehrlich geworden, und wäre dies ein normaler Roman gewesen, hätte ich einfach zum Anfang zurückgeblättert und ihre Auftritte gekürzt, umgeschrieben oder komplett gestrichen. (Figuren, die momentan wichtig sind, aber später keine Rolle mehr spielen, treten in Romanen gern unter ihrer Berufsbezeichnung auf – mit gerunzelter Stirn musterte der Hausmeister die Blutstropfen auf dem Marmorboden liest man dann zum Beispiel.) Doch dies war kein normaler Roman. Also mußte ich mir etwas ausdenken, das Irene Kocic und Eberhard Lembeck nachträglich eine Daseinsberechtigung verschaffte, und deshalb waren sie es, die in Folge 35, kurz nach Pfingsten, das alte Hemd mit dem Paßwort auf der Manschette fanden.
Kurz vor Pfingsten dagegen war geschehen, was ich schon länger befürchtet hatte. Aus Frankfurt traf eine Mail des Inhalts ein, mein Roman treibe »ja nun der
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