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beigebracht? Wer war dieser »Gott« für mich?
»Gott ist mein Schutz, mein Schild, mein Stab, meine Burg und mein Fels. Er befiehlt seinen Engeln, mich zu behüten, auf all meinen Wegen. Sie sollen mich auf Händen tragen, damit mein Fuß nicht stößt an einen Stein. Über Nattern und Schlangen werde ich schreiten, treten auf Löwen und Drachen.«
Was verlangte er für all das, welchen Preis hatte das?
»In deinem Haus darf ich wohnen, mein Leben lang; wie ein Wurm in der Erde, ein Schwan auf dem See, ein Tiger im Dschungel, eine Katze im Hof.«
Und das alles ohne Gegenleistung? Wer konnte das glauben?
Das jahrelange Gerede über Güte und Barmherzigkeit – von »seiner Hand, die er über mich hält … Er, der mich speist und sanft schlafen lässt, weil er mich liebt; es sei alles gesegnet, was er mir gibt« – war mir inzwischen zur leeren Formel verkommen.
Irgendwo da oben saß er, der liebe Gott, der nur das Beste für mich wollte. Ein bisschen Ehrlichkeit, ab und an beten, möglichst nicht morden und stehlen, mehr verlangte er nicht. Und sollte ich dennoch lügen, morden oder stehlen, würde ihm meine wahrhaftige Reue genügen. Mit hängenden Schultern und schamvoll gesenktem Kopf wäre ich vor ihn hingetreten, hätte gebeichtet und die Sache bereinigt. So einfach war das, oder vielmehr: so einfach schien es bisher.
Mir wurde schnell klar, dass ich den flammenden Reden des Pastors nichts entgegenzusetzen hatte. Mein Glaube schien mir nichts weiter als ein Ammenmärchen zu sein, ein Kinderglaube, hohl und lächerlich. Ich hatte nicht nachgedacht, nicht nachgefragt, nur empfunden; hatte Ergriffenheit und Sentimentalität mit Wahrhaftigkeit verwechselt. Plötzlich musste ich mich ernsthaft fragen, mit wem ich da nachts redete. Was wusste ich wirklich von ihm?
Wie konnte ich jahrelang vor einer Macht niederknien, die ich nicht kannte, nicht begriff, nicht hinterfragt hatte?
Ich hatte die Bibel nicht gelesen; ich war verdammt nochmal 16 Jahre alt! Wer studiert denn mit 16 die Bibel?
Ich hatte stets die höchsten Ansprüche an mich, verabscheute nichts mehr als Halbheiten; wollte absolute Entscheidungen, klare Trennungen und präzise Definitionen. Die Textunterschriften und Sprechblasen zu den Bildern meines Lebens sollten radikal sein. Ich war durchaus empfänglich für Parolen; solange Großes, Schimmerndes, Hoffnungsvolles verkündet wurde, durfte der Refrain gerne etwas pathetisch sein. Das war nicht meine Schuld. Die Hormonpest der Jugend hatte mich voll im Griff.
Und so hatte es Pastor Leroy geschafft, zu meinem in sich selbst versponnenen, wuchernd wachsenden Teenager-Selbst vorzudringen. Seine Worte brachten eine Lawine aus W-Fragen ins Rollen, beförderten mich mit einem Arschtritt in die nächste Lebensphase, die bestimmt sein würde von all den Qualen und Zweifeln, die mit dem WARUM einhergehen. In meinem Hirn sollte fortan Absolutismus herrschen: Die königliche Fragen-Familie hatte mein altes Ich gestürzt und den Thron bestiegen.
Meinem Leben erging es wie dem Sauerteig. Eine kleine Handvoll Ws durchsäuerte den ganzen Teig und ließ ihn aufgehen. Ich sprengte die Schüssel meiner Kindheit und breitete mich wild in alle Richtungen aus, ohne zu wissen wohin.
6.
Jeden Morgen stapfe ich durch den Schnee, die 14th Avenue entlang, überquere die Holly Street, nehme die Abkürzung durch das kleine Waldstück, rutsche auf vereisten Trampelpfaden – nicht selten auf dem Hosenboden – der Porter Creek Secondary High School entgegen. Ob Jesus für meine Sünden gestorben ist, interessiert hier niemanden. Von 8.30 Uhr bis 15.30 Uhr beschäftige ich mich vor allem damit, die hier herrschenden Machtverhältnisse, Rangordnungen und Hierarchien zu entschlüsseln. Mit wem sollte man sich zeigen, mit wem besser nicht; wer ist der Aufmerksamkeit wert, wer zu ignorieren? Wie groß ist die Distanz zwischen den beiden hintersten Tischen der Cafeteria, einer rund, der andere rechteckig, um die sich die Crème-de-la-High School versammelt, und die ich im Stillen »Alpha« (rund) und »Beta« (rechteckig«) taufe? Welche Kontaktpersonen braucht man, um in diese Runde eingeschleust zu werden, oder bin ich bereits zufrieden mit meiner prompten Aufnahme an den Betatisch, inklusive boyfriend, der Matt heißt und ein bereits geachteter, im oberen Drittel der Schulgesellschaft angekommener Mann bzw. Junge bzw. irgendetwas dazwischen ist …
Nichts könnte profaner sein als dieser Schulalltag, der
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