Extraleben - Trilogie
echte Existenzkrise, denn da geht es um ein Thema, wo ich ihm die Entscheidung nicht abnehmen kann: Elektronik. Nick gehört nämlich zu diesen Dolby-Surround-Existenzen, die in unserer Altersklasse häufig anzutreffen sind: Menschen, deren gesamte Wohnungseinrichtung - man könnte sogar sagen: deren ganzes Leben - auf Elektronik ausgerichtet ist. Das war bei Nick schon zu Schulzeiten so. Er hatte als Erster in der Klasse dieses orange Donkey Kong -LCD-Spiel mit Doppelbildschirm, den ersten Amiga und später - als wohl Einziger in der Stadt - einen Laserdisc-Player. Doch anders als viele andere kaufkräftige Scheidungskinder, denen es nur darum ging, das jeweils neueste Gadget zu besitzen , wollte er sie auch verstehen . Während die meisten von uns ihren Commodore 64 nur zum Spielen benutzten, nahm Nick die Maschine ernst: Ihn interessierte nicht nur, welcher Poke einem bei Fort Apokalypse unendlich Leben verlieh, sondern er wollte wissen, wofür jede einzelne Adresse auf der Zeropage da war. Während ich gerade mal Disketten kopieren konnte, schrieb er schon mit vierzehn eigene Demos in Maschinensprache und brannte sich einen eigenen Zeichensatz auf Umschalte-ROM - selbst, wenn man den Brotkasten danach nicht mehr zuschrauben konnte. Ihn interessierte schon immer die Technik hinter den Dingen. In letzter Zeit ist ihm dieser Forscherdrang allerdings ein wenig abhanden gekommen. Er schaut lieber nur noch nach hinten. Das begann zunächst als traniger Retrofimmel, hat sich mittlerweile aber zu dieser Art von dumpfer Nostalgie ausgewachsen, wie man sie bei Fans von Oldie-Musik beobachten kann, Stichwort: »Die alten Sachen waren besser.«
Ich bilde mir zumindest ein, noch ein bisschen kritische Distanz zu wahren. Wenn ich für alte Mac OS schwärme, dann nur wegen der reduzierten Ästhetik, der kompromisslosen Funktionalität. Niemals im Leben käme ich auf die Idee, mit einem solchen Betriebssystem heute ernsthaft zu arbeiten. Nick sieht das ganz anders: Bei ihm bedeutet älter immer auch besser. Letztens habe ich auf seinem Rechner sogar eine Riesensammlung von Achtzigerjahre-Pornos gefunden; Movie mit Frauen wie Celeste oder Rocky Roads, wo das Bild unten am Rand so verzerrt ist, weil der Kopf vom Videorecorder verstellt war. Ich vermute, Nick hat da heimlich ein Experiment in Sachen Retromanie laufen. Auf meine Frage, warum er sich freiwillig die ganzen Bärte und damals noch kruden Brust-OP-Narben anschaut, bemerkte er nur, das seien eben »Klassiker«.
Als ich dann wissen wollte, was denn bitteschön einen Klassiker ausmacht, meinte er ungerührt: »Klassiker ist alles, was in meiner Kindheit cool war!«
Eine Ausnahme gönnt sich der Retorten allerdings: sein Heimkino. Da versucht Nick nach wie vor, ganz vorne mitzuspielen. Zentrum seiner Bude ist ein gigantischer Bildschirm, gekoppelt an ein Soundsystem mit einer Gazillion von Kanälen, und ein Sofa, das perfekt im Surround-Quadrat positioniert ist. Weniger Mühe hat er sich mit dem Rest der Einrichtung gemacht. Er folge eben dem Prinzip »form follows function«, witzelt Nick immer und meint damit, dass er die Sachen vom Sperrmüll hat. So sehen sie leider auch aus: Fast an jedem Möbelstück kommen irgendwo die Spanholzsplitter raus, wirft das einmal feucht gewordene Plastikfurnier Blasen. Seine Einrichtung ist der Beweis dafür, dass Ikea-Möbel eben nicht mehr als einen Besitzer vertragen. Nicht, dass es bei mir stylischer zugeht. Dabei müssten wir eigentlich schon mitten im achso ernsten Ernst des Lebens drinstecken, wie die meisten unserer Bekannten, und uns sehr viele Gedanken um die Inneneinrichtung machen. Müssten. Und da ist er wieder, der große, lähmende Konjunktiv. Müsste. Seit Jahren bestimmt er unser Leben. Egal, was wir tun im Hinterkopf läuft ständig diese »Eigentlich müsste«-Subroutine ab: Eigentlich müsste man das Studium zu Ende bringen. Eigentlich müsste man in eine vernünftige Wohnung umziehen, eine Frau finden und sich überhaupt altersgemäß verhalten. Eigentlich, eigentlich. Dieser kategorische Konjunktiv lässt sich sogar noch steigern: »Eigentlich müsste man mal irgendwie.«
Aus irgendeinem Grund haben wir den Abschied vom Studenten-Style trotzdem nie richtig hingekriegt. Wir hausen beide noch auf 30 Quadratmetern in einer Wohnung, die unsere Eltern früher wahrscheinlich »Bude« genannt hätten - schön in Uninähe, was seit Jahren schon nichts mehr bringt, da die Redaktion ziemlich genau am anderen Ende der Stadt
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