Extraleben - Trilogie
sein kann, Helpdesk zu spielen - das trifft einen doch irgendwie. Ein Nerd, der nicht mehr nach IT-Rat gefragt wird, hat seine Daseinsberechtigung verloren. Wahrscheinlich ist es höchste Zeit, der Wahrheit ins Auge zu sehen: Wir haben diesen Punkt im Leben eines Mannes erreicht, an dem er von seinem Computer nur noch erwartet, dass er funktioniert, und eben nicht auch noch die hinterletzte Funktion des Betriebssystems kennen und verstehen will. Bei 99 Prozent aller Männer fällt dieser Moment zusammen mit der Geburt des ersten Kindes und/oder der Hochzeit - dachte ich zumindest immer. Aber je mehr Zeit vergeht, desto sicherer bin ich mir, dass diese Sache nichts mit Äußerlichkeiten zu tun hat. Sie läuft eher wie eine Sanduhr ab: Irgendwann fällt das letzte Korn, und der Update-Trieb versiegt. Erst mal kämpft man natürlich dagegen an, redet sich ein, nur gerade keine Zeit zu haben, die Software zu aktualisieren. Irgendwann gewinnt die PC-Resignation dann doch die Oberhand: Es fängt damit an, dass man eben nicht um 18:01 Uhr eine neue Programmversion herunterlädt, die um 9 Uhr amerikanischer Westküstenzeit veröffentlicht wurde, sondern erst um 19 Uhr. Dann verschiebt man das Update auf den nächsten Tag, und schließlich klickt man die Dialogboxen mit den Hinweisen auf neue Versionen nur noch weg. Bei mir lag dieser Punkt irgendwo zwischen Mac OS 9.1 und 9.2. Nick, der Mann für alle x86-Sachen, hat sich, glaube ich, ausgeklinkt, als der Support für Windows 98 eingestellt wurde. Erst mal plagt einen natürlich das schlechte Gewissen, sich so schamlos vom IT-Zeitgeist abgekoppelt zu haben. Aber nach einiger Zeit tritt an die Stelle der Phantomschmerzen eine wohlige Wärme. Es ist das Gefühl, in den alten Systemen eine Heimat gefunden zu haben, die Schönheit von etwas Abgeschlossenen. So in etwa müssen sich die Sammler von DDR-Briefmarken nach der Wiedervereinigung gefühlt haben; nichts beruhigt mehr als die Gewissheit, dass nichts Neues mehr kommt. Ich finde, nach einem Leben voller Updates haben wir uns das verdient.
»Altaaah, was machen wir denn heute Abend jetzt?«
Nick hat seine Caterpillar-Boots auf den Schreibtisch abgelegt. Heute ist er mit seinem Motorrad zur Arbeit gekommen und präsentiert sich wieder äußerst modisch. Seine Beine stecken in einer fleckigen Danese-Lederhose, dazu trägt er einen schwarzen Rolli mit Reißverschluss. Wie immer gegen fünf kramt Nick seinen Nachmittagssnack raus: ein Comtess -Schokokuchen und eine Dose Cola, weder light noch koffeinfrei. Er schneidet eine Scheibe vom Bahlsenblock ab und schaut seelenruhig zu, wie die Krümel auf den Boden rieseln. Ich beobachte ihn dabei aus dem Augenwinkel und bin neidisch auf seine Genügsamkeit; wenn er seinen Kuchen isst, dann hat das was von Zen. Völlig entspannt schiebt er sich drei dicke Scheiben hintereinander in den Mund und spült mit der Cola nach. Unfassbar, dass er bei der Kost immer noch so sportlich aussieht. Müssen wohl die Gene sein. Überhaupt gehört mein Kollege zu diesen beneidenswerten Menschen, die in einem prä-kalorischen Bewusstsein leben. Nick weiß weder, dass seine Comtess das 70 fache des Tagesbedarfs an Fett deckt und Millionen von Kalorien enthält, noch, dass er ungefähr dreieinhalb Stunden auf dem Fitnessrad schwitzen müsste, um auch nur eine Scheibe wieder abzubauen. Beneidenswert. Mir hatte eine Freundin Anfang der Neunziger mal eine Kalorientabelle gezeigt; danach war Feierabend, das Ende der Unschuld. Seitdem bestelle ich bei McDonald's nur noch zwei Hamburger ohne alles - maximal viel Eiweiß bei minimalem Fettanteil-und nehme mir oft vor, an einen Ort zu gehen, wo die Menschen von einer »Jahres-Currywurst« sprechen, weil sie nur eine im Jahr essen. Ins Fitness-Studio also. Manchmal denke ich, Nick hat es besser. „Was ist denn jetzt mit heute Abend?«, fragt er.
»Zocken«, schlage ich vor. „Wenn du meinst ...«
Da ist sie wieder: die große Indifferenz. Wenn Nick eine Sache hasst, dann Entscheidungen. Manchmal habe ich das Gefühl, er würde sich gerne mal entführen lassen, nur um an diesem Tag eben nichts entscheiden zu müssen. Das ist einerseits angenehm, da er so ziemlich alles ohne Widerstand mitmacht, nervt andererseits aber wahnsinnig, weil man ständig alles für ihn mitentscheiden muss. So richtig schlimm wird die Sache, wenn es mal wieder zwei neue Medienformate gibt, so wie seinerzeit bei den hochauflösenden DVDs. Das stürzt meinen Kumpel regelmäßig in eine
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