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Extraleben

Extraleben

Titel: Extraleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constantin Gillies
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Atlantik ihre erste Kreditkarte Probe fahren wollen, jeden halbwegs modernen Club bevölkern, alle Frauen mit Wangenkuss begrüßen und unangenehm durch gute Kleidung auffallen. Damen und Herren von Welt dagegen kehren im Encounter schon lange nicht mehr ein - falls es die überhaupt noch gibt. Vor ein paar Jahren haben wir hier oben mal lange darüber diskutiert, wer heutzutage noch als Mann von Welt durchgeht. Nick schlug George Clooney vor. Von der reinen Faktenlage spricht in der Tat einiges für ihn: Trägt oft Smoking, hat eine Villa am Corner See, fällt nicht durch unangenehm zur Schau gestellte Gefühle auf. Aber irgendwas stimmt noch nicht. Nach einigem Überlegen sind wir - als echter Eurotrash - zu dem Schluss gekommen, dass Amerikaner per se keine Weltmänner sein können. »Die bleiben irgendwie immer der Quarterback in ihrer Highschool- Footballmannschaft«, meinte Nick zu Recht. Meine Theorie: Der Weltmann der Sechzigerjahre wurde durch den Global Player ersetzt, eine durch und durch nutzenorientierte, spaßfreie Version des weit gereisten Lebemannes. Der lernt nicht mehr malaiisch, um im Raffles-Hotel in Singapur einen Mint Julep bestellen zu können, sondern um das nächste Management- Audit zu überstehen. Von so einer unbeschwerten Verbitterung sind wir heute Abend weit entfernt. Jeder für sich stiert den startenden Jumbojets hinterher, deren Triebwerke in der Nacht glimmen wie eine Kippe, die der Vordermann auf dem Highway aus dem Fenster geschnippt hat. Unsere Blicke folgen ihnen, wie sie grollend im schwarzen Nichts verschwinden, auf ihrem Weg nach ...Wohin eigentlich? Heißt die Maschine Chemnitz und durchstößt in elf Stunden den grauen deutschen Hochnebel, oder steuert der Clipper den Flughafen von Ulan-Bator an, in dessen Halle - so hört man - noch acht analoge Uhren mit verschiedenen Zeitzonen nebeneinanderhängen? Wo liegt da noch der Unterschied? Alles scheint egal zu sein. Wir sprechen lange Zeit nichts, viel länger als jemals auf der Straße. Ich fühle mich so angespannt wie auf dem Zahnarztstuhl in den letzten Sekunden, bevor die Tür aufgeht und der weiße Kittel reinweht. Schließlich schaue ich doch zu Nick rüber. Er tut so, als habe er es nicht gemerkt, dreht sich nicht einmal um. In den Winkeln seiner Augen spiegeln sich Flutlichter des Vorfeldes. Je länger ich ihn fixiere, desto mehr scheinen sie zu tanzen. Ich drehe mich ihm zuliebe schnell wieder um; solche Situationen sind einfach nicht meine Stärke, die widersprechen zu sehr der Keine-Extreme-Regel. Ich muss an den Tag denken, als Nicks Großvater starb. Irgendwann Mitte der Neunziger war das. Wir hatten gerade eine Woche in der Bretagne verbracht, an der Steilküste gesessen, Kronenbourg aus Viertelliter-Fläschchen getrunken und wahrscheinlich einhundertmal »Dub be good to me« von Beats International gehört, das Ding mit der Mundharmonika aus »Spiel mir das Lied vom Tod«, Auf der Rückfahrt verreckte Nicks Opel Kadett im bretonischen Nirgendwo. Wir mussten auf einem Supermarktparkplatz in Rennes übernachten und den nächsten Vormittag in einer französischen Autowerkstätte verbringen, wo ich alle Mechaniker mit dem aus dem Langenscheidt zusammengestückelten Satz »Nous sommes terriblement pressés« zu Tode nervte. Schließlich haben sie das Radlager, oder was auch immer kaputt war, doch hingekriegt, und wir sind noch die tausend Kilometer bis nach Hause gefahren. Als wir schließlich vor Nicks Bude standen, war es zwei Uhr nachts. Mit halb geschlossenen Augenlidern schleppten wir unsere Seesäcke und zwei 48er-Packs Kronenbourg die Treppe hoch. Ich war schon wieder auf dem Sprung, da drückte Nick im Vorbeigehen auf seinen Anrufbeantworter. Es war nur eine Nachricht drauf, von seiner Mutter: »Du, der Gerd ist tot«, krächzte ihre belegte Stimme aus dem Kasten. Ich sehe Nick noch heute vor mir, wie er da in seinem schimmeligen Flur stand, unter der blanken 60-Watt-Birne, völlig erstarrt und mit knallroten Augen. In diesem Moment hätte ich gerne irgendwas Passendes gesagt, aber wie üblich fiel mir nichts ein. Alles, was ich hinbekommen habe, war, ihm kurz den Arm um die Schulter zu legen und auf den Rücken zu klopfen. So eine typische Männerumarmung halt, mechanisch, knapp, den Kopf streng zur Seite gewandt. »Penn dich erstmal aus, Alter«, habe ich noch gestammelt, bevor ich raus in den Flur bin. Ich denke, das war auch in seinem Sinn, um das Gesicht zu wahren. So, wie es aussieht, haben wir mal

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