Extraleben
Unter den möglichen Schauplätzen stand auch Grönland zur Auswahl, doch im Gegensatz zu anderen Ländern waren hier weder Industrieanlagen noch Städte verzeichnet, sondern nur Flughäfen. Nachdem ich am Terminal in Kopenhagen die Netzquellen überflogen habe, komme ich zu dem Schluss, dass das Game extrem realistisch war. Grönland besteht anscheinend wirklich nur aus Flughäfen, und Kangerlussuaq sticht allein dadurch hervor, dass es den größten von allen hat. Außerdem ist der Airport als Notlandepiste für Transatlantikflüge vermerkt - obwohl der Anflug durch einen engen Fjord unter Piloten als schwierig gilt. Ah, ein Fleckchen Zivilisation am Rand der eisigen Hölle, das könnte sich zur ersten ernsthaften Entdeckungsreise entwickeln. So richtig abenteuerlich lässt sich der Trip allerdings nicht an. Statt mit einer klapprigen Turboprop-Maschine, wie ich gehofft hatte, bedient Air Greenland die Strecke mit einem stinknormalen Airbus; wieder einmal weigert sich das Leben stur, die Kunst zu imitieren. Mir bleibt also nichts übrig, als mich in meinen Sitz zu quetschen und in die gleiche Duldungsstarre zurückzufallen, in der ich auch schon den letzten halben Tag verbracht habe. Nachdem ich eine gute Stunde die Augen geschlossen gehalten habe - die Frist garantiert, dass einen der Sitznachbar für den Rest der Reise nicht mehr anspricht -, wage ich einen Rundumblick. Von der Kabinenausstattung her könnte das auch der Lufthansa- Regionalflug nach Friedrichshafen sein, allerdings nicht, was die Passagiere angeht; die sehen nicht nach Businessflug aus. Meine Mitreisenden teilen sich in zwei Fraktionen auf: Die eine Hälfte, ein buntes Häufchen aus Vollbärtigen und Inuit, also Eskimos, scheinen Einheimische auf dem Weg nach Hause zu sein. Jeder kennt hier jeden, und die Leute unterhalten sich laut und gut gelaunt über die Sitzreihen hinweg in gebrochenem Englisch oder Dänisch. Die andere Fraktion macht einen weniger ausgelassenen Eindruck: Es sind Erlebnistouristen. mit denen um diese Jahreszeit in Grönland wohl zu rechnen war - ausgezehrte Mittvierziger mit schwarzen Jeans und Trekkingsandalen. Sehr konzentriert haben die Goretexaner nach dem Einsteigen allerlei Windjacken, Schneebrillen, Moskitonetze und anderes, zweifellos perfekt für die Region geeignetes Gerät in die Ablagen gehievt - und mir damit vor Augen geführt, dass ich mit meiner Amateurausrüstung im Prinzip dem sicheren Tod entgegengehe. Bis auf ein paar Flanellhemden und eine Cord-Jeansjacke habe ich nichts im Koffer, was für den Polarkreis taugt. Warum auch? Schließlich hatten wir uns auf die Mojave-Wüste eingestellt. Ich nehme mir vor, direkt nach der Landung eine Regenjacke zu kaufen, und falle in einen Dämmerschlaf. Das Summen der Landeklappen reißt mich drei Stunden später hoch; habe ich wirklich geschlafen? Ich öffne vorsichtig die zusammengeklebten Augenlider und ziehe die Sonnenblende hoch. Das Panorama ist überwältigend, es sieht aus, als setzten wir zum Landeanflug auf einen anderen Stern an: Unter den Tragflächen breiten sich bis zum Horizont grüne, baumlose Hügel aus, die ein bisschen an die schottischen Highlands erinnern. Die wenigen Felsen, die aus dem grünen Teppich herausragen, sehen rund und glatt aus wie Steine in einem Bach, die über Äonen von der Strömung ab geschmirgelt wurden. Bäume gibt es keine, nur ein paar Sträucher ducken sich dicht an den Boden, als hofften sie, so vom arktischen Wind übersehen zu werden. Als der Pilot eine kleine Kurve fliegt, rauscht kurz unser Ziel vor dem Fenster vorbei: ein grauer Strich in der Landschaft, eine Landebahn am Ende eines ausgetrockneten Flussbetts. »Look, there's Kanger«, sagt der amerikanische The-North-Face-Tourist in der Reihe hinter mir und stößt seine trockene Reisebegleiterin an. Jetzt, wo ich weiß, dass der Anflug haarig ist, kommt er mir natürlich auch wie ein kontrollierter Absturz vor. Böen schubsen die Maschine hin und her, mit einem lauten Knallen fliegt eine Gepäckablage auf. Als einer der Funktionsbekleideten aufspringen will, um die Klappe zu schließen, herrscht ihn die Stewardess an: »Sir, please sit down!« Zum ersten Mal seit Jahren habe ich feuchte Handflächen während einer Flugzeuglandung. Schließlich zischt der erste Meter Beton unter uns vorbei, der Pilot drückt den Airbus rabiat runter und setzt ihn mit einem lauten Rumpeln auf. Die Bremsung drückt mich so weit nach vorne, dass ich in den Fenstern auf der
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