Extrem
Ein Vorwort
Im Februar 2011 fuhr ich mit einem Kamerateam nach Tschernobyl, um einen Bericht für Galileo Spezial zu drehen. Eine nur scheinbar gewöhnliche journalistische Reise, die uns an den Schauplatz einer der schlimmsten Reaktorkatastrophen der Geschichte führte. Vor Ort besichtigten wir die Sperrzone des ehemaligen Atomkraftwerkes. Und wir sprachen mit vielen Einheimischen, um ein möglichst vielseitiges Bild vom Leben nach der Katastrophe zu zeichnen.
Für mich (genauso wie für mein Team) stellte der Aufenthalt in Tschernobyl eine Extremsituation dar. Das Gebiet um das 1986 havarierte Atomkraftwerk ist auch 25 Jahre nach dem Unglück noch hochgradig mit strahlungsaktiven Substanzen verseucht. Niemand sollte sich ihrer Strahlung über einen längeren Zeitraum aussetzen. Für das Betreten des Geländes gelten zahlreiche Schutzmaßnahmen. Doch was mich besonders an dieser Situation irritierte: Die Gefahr war nicht sichtbar. Es war allein unser Wissen, das uns zu Vorsichtsmaßnahmen gegen denunsichtbaren Feind veranlasste. Das Wissen darum, dass die Strahlung in Tschernobyl nach wie vor stark genug ist, um alle möglichen unheilvollen Prozesse im Körper auszulösen. Wir verzichteten daher zum Beispiel auf den Verzehr von Kartoffeln, die uns von einer Bäuerin angeboten wurden. Doch selbst wenn wir sie gegessen hätten oder ohne jeglichen Schutz in das Innere der verbotenen Zone vorgedrungen wären: Unmittelbare Auswirkungen auf unseren Körper hätte es nicht gehabt. Und auch Jahre später eintretende Folgen hätte man nicht mit Gewissheit auf diese oder jene Situation während unserer Reise zurückführen können. Es war also anders als bei den üblichen Gefahren, denen wir uns bisweilen aussetzen. Ursache und Wirkung sind sonst direkter miteinander verknüpft – wer auf einen hohen Berg steigt, weiß, dass er tief fallen und dass ein Sturz den Tod bedeuten kann.
Die für mich neue Erfahrung einer ungreifbaren Gefahr, bei der ich nicht einschätzen konnte, was genau in meinem Körper geschieht, gab mir Anlass, mich näher mit dem Körper zu befassen. Mit seinen Möglichkeiten, seinen Grenzen, aber auch dem Eigenleben, das er manchmal gegen unseren Willen führt – etwa wenn wir Schmerzen haben und es partout keine Option ist, seinen Ruf nach Aufmerksamkeit zu ignorieren.
Doch nicht nur in Gefahr, nicht allein in außergewöhnlichen Situationen gilt: Was immer wir tun, wo immer wir uns aufhalten, in welchem Zustand wir uns gerade befinden – in unserem Körper laufen unzählige Prozesse ab, ohne dass wir uns ihrer bewusst sind. Nicht zuletzt deshalb birgt unser Umgang mit dem Körper eine nicht abreißende Kette von Widersprüchen: Wir gehen morgens joggen, um die Bildung von Fettpolstern, Falten und Zellulitis hinauszuzögern und den Körper in bestmöglicher Formzu halten, und stehen abends mit einer Flasche Bier und einer Zigarette in der Hand vor der Kneipe, womit wir genau diese Prozesse des körperlichen Verfalls beschleunigen.
Manche treiben die Widersprüche ins Extreme, fahren nur mit Helm Fahrrad, legen im Auto sorgfältig den Gurt an, lassen ihre Kinder kaum aus den Augen – um sich in ihrer Freizeit auf abenteuerliche Motorradtouren durch die Sahara zu begeben, Extremklettern, Tiefseetauchen oder Bungee-Jumping zu betreiben und sich und ihren Körper dabei mitunter ungeheuerlichen Gefahren auszusetzen.
Was ist der Grund für dieses Verhalten? Verlangt unsere biologische Natur nach extremen Zuständen, nach der Erfahrung von Hitze, Kälte, Angst, Geschwindigkeit in den Grenzbereichen des Aushaltbaren? Ist die Suche nach dem besonderen Kick ein menschlicher Wesenszug?
Extremsituationen geben uns zahlreiche Rätsel auf: Sie werden medizinisch, biologisch oder neurowissenschaftlich untersucht, sie sind Spezialfälle für die Psychologie und Grundlage von Geschichten über Wunderheilungen. Immer neue Erkenntnisse, die verschiedene Wissenschaften über unseren Körper zu Tage fördern, beleuchten stets von Neuem eine alte Frage: Werden wir durch das, was in unserem Körper vorgeht, bestimmt, oder sind wir mit unserem Verhalten in der Lage, die Vorgänge in unserem Körper zu steuern? Dabei sind nicht alle körperlichen Extremsituationen sofort als solche zu identifizieren – wenn wir verliebt sind, spielen z. B. unsere Hormone verrückt, und bei einem Lachanfall sind mehr Muskeln aktiv als bei einem 100-Meter-Lauf. Auch von solchen inneren Extremzuständen handelt dieses Buch.
Als
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