Extrem: Die Macht des Willens (German Edition)
zu uns Läufern. Ich verstehe ihn nicht und es ist mir auch egal, was er sagt, denn ich will endlich starten. Zum wiederholten Mal zupfe ich an meinem Laufshirt. Sitzt alles richtig? Habe ich auch alles dabei? Schließlich erklingt Conquest of Paradise, die Hymne des Rennens. Damit ist allen klar: Gleich geht’s los. Mein Herz schlägt schneller. Die Musik elektrisiert mich, jede Faser meines Körpers ist angespannt und auf dieses einzigartige Laufabenteuer programmiert. Es kribbelt in mir vom Kopf bis zur Fußspitze. „Ich will“, sage ich mir. „Ich will und werde diesen Lauf finishen. Ich bin bereit für diese extreme Herausforderung.“ Um 18:30 Uhr ertönt endlich der Startschuss. Jetzt geht es los. Einmal um den Mont Blanc: 166 Kilometer und 9.400 Höhenmeter. Nonstop, innerhalb von 46 Stunden.
Von Chamonix führt zunächst ein sanfter Anstieg auf der rechten Seite des Arvetals nach Les Houches. In einem lockeren Laufschritt bewege ich mich vorwärts. „Mach langsam“, sage ich mir. Ein zu schnelles Loslaufen kann in Anbetracht der exorbitant langen Strecke fatale Folgen haben. Dicht an dicht geht es auf den ersten Kilometern zu. Doch diese ersten acht Kilometer auf weitgehend flachem Gelände sollen die letzten dieser Art gewesen sein. Schon sehr bald wird der erste von zehn langen und zermürbenden Anstiegen kommen. Ein Gefühl des Schauerns durchfährt mein Körper bei diesem Gedanken. Wenig später bricht die Nacht herein. Alles um mich herum verändert sich. Die Wahrnehmung reduziert sich hauptsächlich auf den Schein der Stirnlampe. Ich kann nur noch ein paar Meter weit sehen. Jetzt geht das Rennen richtig los. Das Laufen bei Nacht wird auf den schmalen Gebirgspfaden zu einem echten Abenteuer.
Es ist mittlerweile weit nach Mitternacht und ich habe fast eine Marathondistanz zurückgelegt. Die nächste Herausforderung wartet auf mich: der Anstieg zum Col du Bonhomme. Das bedeutet 1.000 Höhenmeter − am Stück bergauf. Mit Blick auf den Boden und voll konzentriert starte ich ganz langsam, Schritt für Schritt, diesen steilen Anstieg. Vor mir liegt ein schlammiger Pfad, übersät mit Geröll und rutschigen Felsen. Dieser schlängelt sich im Zickzackkurs steil nach oben. Bis zu 35 Prozent Steigung darf man bei diesem Rennen bewältigen. Der technische Anspruch ist beim Ultra-Trail Mont Blanc enorm. Links und rechts des Pfades ist es stockdunkel. Bei Nacht erhält das Rennen einen komplett anderen Charakter. Um mich herum ist es mystisch, unheimlich, geheimnisvoll. Mein Sichtfeld ist merklich eingeschränkt. Nur der schmale Schein meiner Stirnlampe gibt mir Orientierung. Ich sehe stellenweise nur noch ein paar Meter weit. Es herrscht eine eigenartige, faszinierende und auch gespenstische Atmosphäre. Wenn du bei Tageslicht läufst, kannst du die Umgebung in der Regel voll wahrnehmen. Du siehst, dass vor dir ein spitzer Stein liegt. Du siehst den holprigen und steilen Bergpfad. Bei Nacht ist dies alles nicht möglich. Ich hebe meinen Kopf und schaue nach vorne. „Was ist das denn, bitte? Sind das etwa schon die Sterne am Himmel?“, frage ich mich. „Doch warum bewegen sie sich?“ Bei genauerer Betrachtung gefriert mir fast das Blut in den Adern. „Das sind die Stirnlampen der Läufer!“ Wie Glühwürmchen, die sich den Berg hochschlängeln. Einerseits ist es faszinierend, andererseits lässt es mich auch erschauern, weil ich sehe, welche Strecke ich noch vor mir habe. Nach dem Schock gehe ich weiter und stoße mich mit meinen Trekkingstöcken vom Boden ab. Diese stellen eine enorme Erleichterung bei diesem Rennen dar. Fast jeder Läufer hat welche dabei. Tick, tack, tick, tack − in der Stille der Nacht hört man nur den Klang der Stöcke, die auf die nassen Felsen aufsetzen. Ansonsten ist es ruhig.
Auf einmal taucht im Schein meiner Stirnlampe ein Läufer auf, der am Wegesrand steht und nicht mehr weitergeht. Er hat seinen Oberkörper nach vorne gebeugt, mit seinen Händen hält er sich an den Knien fest. Als ich mich ihm nähere, bemerke ich, dass er fix und fertig ist. Er keucht wie ein Stier und scheint sich erbrochen zu haben. Eine braunfarbene, widerlich riechende Flüssigkeit liegt vor ihm auf dem Boden. „Are you right?“, frage ich ihn. Er schüttelt nur mit dem Kopf und signalisiert mir, dass ich weitergehen soll. So grausam kann der Mont Blanc sein, und das nach nur einem Viertel des Rennens. Noch über 120 Kilometer liegen vor uns. Doch daran verschwende ich keinen Gedanken. Mein
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