Extrem: Die Macht des Willens (German Edition)
Die ersten Sonnenstrahlen kitzeln auf meiner Haut. Nicht nur die Kälte der Nacht und die Finsternis sind damit überstanden, auch die Gewissheit, einen weiteren schwierigen Streckenabschnitt erfolgreich bewältigt zu haben. Ich bleibe stehen, schnaufe noch ein paar Mal kräftig durch und warte, bis sich mein Atem ein wenig beruhigt hat. Weitere 1.000 Höhenmeter Aufstieg liegen hinter mir. Doch die Aussicht hier oben entschädigt für die Strapazen. Wohin ich auch blicke: Berge, Berge und nochmals Berge! Ich lasse meinen Blick weiterschweifen: schneebedeckte Gipfel, saftig grüne Wiesen und imposante Gletscher. Keine einzige Wolke bedeckt den tiefblauen Himmel und ich kann kilometerweit sehen. Was für ein Genuss! Die Sonne taucht die Berge ringsum in ein warmes Orange, der majestätische Mont Blanc leuchtet fast rot in diesem Morgenlicht. Sieben Täler, 71 Gletscher und 400 Gipfel − das ist das Faszinierende am Mont Blanc-Massiv. Hier wechseln sich Fels, Wasser, Eis und Licht ständig ab. Gerade dieses Gefangensein in der mächtigen Natur stellt für mich einen wesentlichen Beweggrund zur Teilnahme an diesem Lauf dar. In der letzten Stunde des Aufstiegs ist mir jeder Schritt unheimlich schwer gefallen, doch jetzt scheint alles wie weggeblasen. Ich spüre eine absolute Reinheit in mir. Die klare, saubere Luft, die in meine Lungen strömt. Ich sauge diesen Moment voll und ganz in mich auf. Alles andere um mich herum nehme ich in diesem Augenblick nicht mehr wahr. Ein Lächeln huscht mir über den Mund und Glücksgefühle durchströmen meinen Körper. „Ist es nicht ein absolutes Privileg, hier in dieser traumhaften Landschaft laufen zu dürfen?“
Von der eisigen Kälte, die nachts hier oben herrscht, ist fast nichts mehr zu spüren. Die Temperaturunterschiede im Hochgebirge können enorm sein. Von zweistelligen Minusgraden in der Nacht bis zu dreißig Grad am Tag musst du als Läufer bei diesem Rennen auf alles gefasst sein. Das bedeutet natürlich, dass du von der persönlichen Ausrüstung her sehr gut vorbereitet sein musst. Warme Kleidung ist, speziell bei Nacht, extrem wichtig und schützt den Körper vor dem Auskühlen. Doch am Gipfel des Col de la Seigne ziehe ich meine Mütze und Handschuhe aus, bleibe für ein paar Sekunden stehen, genieße noch einmal den fantastischen Rundblick, nehme noch einen Riegel zu mir und mache mich danach an den Abstieg.
„Bald hast du die Hälfte des Rennens geschafft“, motiviere ich mich. Diesem Streckenabschnitt, bei Kilometer 83, fiebere ich entgegen. Er bildet für mich einen der wichtigsten Punkte des gesamten Laufs. Gedanklich strukturiere ich mir immer die gesamte Strecke in kleine Abschnitte. Das hilft mir ungemein, gerade wenn ich mich in einer Tiefphase befinde. 166 Kilometer am Stück sind für mich unvorstellbar, aber beispielsweise zwölf Kilometer sind noch überschaubar. Es wird immer wärmer, die Sonne steht fast senkrecht über mir und der Pfad bietet kaum schattenspendende Bäume. Dreißig Grad in der Sonne − ich fühle mich wie in einem Backofen. „Wann kommt der nächste Verpflegungspunkt?“, geht es mir immer wieder durch den Kopf. Am Wegesrand sehe ich einen Läufer, der sich an einem Felsen festklammert und sich ausruht. Sein aschfahles Gesicht und seine dunklen Augenränder sprechen Bände.
Ich fühle mich wie bei einer Achterbahnfahrt: Hochs und Tiefs wechseln sich permanent ab. Nachdem ich die letzten Stunden auf italienischer Seite gelaufen bin, betrete ich nun Schweizer Terrain. Über 100 Kilometer liegen hinter mir. Seit dem Start gestern Abend in Chamonix sind bereits 26 Stunden vergangen. Langsam wird es wieder dunkel und die zweite Nacht bricht herein. Ich werde auf einmal hundemüde. „Quäl dich, du Sau“, sage ich mir immer wieder. Die lange Dauer des Rennens und das damit verbundene Laufen durch zwei Nächte stellen einen großen Härtefaktor dar. Insbesondere in der zweiten Nacht, nach mittlerweile fast dreißig Stunden Nonstoplaufen, ist es außerordentlich schwer, gegen die Müdigkeit und die Finsternis anzukämpfen. Ich schlafe teilweise während des Laufens fast ein. „Verdammte Scheiße, bleib konzentriert“, sage ich mir laut. Ich schlage mir mit meinen Händen auf die Brust − wie ein wild gewordener Gorilla − und reiße meine müden Augen so weit wie möglich auf. Ich will mit aller Kraft wach bleiben und den nächsten Checkpoint erreichen. In solch einem Moment entscheidet nur noch die mentale Stärke. Willst du
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