Extrem laut und unglaublich nah
passenden Schloss gesucht.« »Dann haben wir uns gegenseitig gesucht.« Endlich konnte ich die allerwichtigste Frage meines Lebens stellen: »Was kann man damit aufmachen?«
»Ein Bankschließfach.« »Ja, aber was hat das mit meinem Dad zu tun?« »Mit deinem Dad?« »Entscheidend an dem Schlüssel ist doch, dass ich ihn in der Kleiderkammer meines Dads gefunden habe, und weil er tot ist, konnte ich ihn nicht mehr fra gen, was für ein Schlüssel es ist, und deshalb musste ich die Frage allein beantworten.« »Du hast ihn in seiner Kleiderkammer gefunden?« »Ja.« »In einer hohen, blauen Vase?« Ich nickte. »Mit einem Schild darunter?« »Keine Ahnung. Ich habe kein Schild gesehen. Weiß ich nicht mehr.« Wenn ich allein gewesen wäre, hätte ich mir den größten blauen Fleck meines Lebens verpasst. Ich hätte einen einzigen, riesigen blauen Fleck aus mir gemacht.
»Vor ungefähr zwei Jahren ist mein Vater gestorben«, sagte er. »Er war bei einer Routineuntersuchung, und der Arzt hat ihm erklärt, er habe noch zwei Monate zu leben. Zwei Mona te später war er tot.« Ich wollte nichts vom Tod hören. Alle Menschen redeten ständig vom Tod, sie redeten von nichts an derem, selbst wenn sie nicht darüber redeten. »Ich musste mir überlegen, was aus all seinen Sachen werden sollte. Bücher, Möbel, Kleidung.« »Wollten Sie die Sachen denn nicht behal ten?« »Ich wollte nichts davon behalten.« Das fand ich krass, weil ich Dads Sachen unbedingt haben wollte. »Um es kurz zu machen …« »Sie brauchen es nicht kurz zu machen.« »Ich habe einen Wohnungsausverkauf veranstaltet. Ich hätte nicht dabei sein dürfen. Ich hätte es jemand anderem übertragen sollen. Oder alles verschenken. Denn so konnte ich nicht an ders, als allen Leuten zu sagen, dass die Preise für seine Sa chen nicht verhandelbar seien. Sein Hochzeitsanzug war nicht verhandelbar. Seine Sonnenbrille war nicht verhandelbar. Es war einer der schlimmsten Tage meines Lebens. Vielleicht der schlimmste.«
»Geht es Ihnen gut?« »Mir geht es prima. Aber die letzten paar Jahre waren ziemlich hart. Ich war meinem Vater nicht besonders nahe.« »Möchten Sie in den Arm genommen wer den?« »Geht schon wieder.« »Warum nicht?« »Warum was nicht?« »Warum waren Sie Ihrem Vater nicht besonders nahe?«
Er sagte: »Viel zu lange Geschichte.« »Können Sie mir jetzt bit te etwas über meinen Dad erzählen?«
»Als mein Vater von seinem Krebs erfuhr, begann er, Briefe zu schreiben. Davor war er kein großer Briefeschreiber gewe sen. Ich weiß nicht, ob er überhaupt je einen Brief geschrie ben hatte. Aber in seinen letzten beiden Lebensmonaten hat er wie besessen Briefe geschrieben. Immer, wenn er bei Bewusst sein war.« Ich fragte ihn, warum, aber in Wahrheit hätte ich gern gewusst, warum ich nach Dads Tod begonnen hatte, Briefe zu schreiben. »Er wollte Abschied nehmen. Er schrieb sogar Menschen, die er kaum kannte. Wenn er nicht sowieso schon krank gewesen wäre, wären die Briefe seine Krankheit gewesen. Gestern hatte ich ein geschäftliches Treffen, und mit ten im Gespräch fragte mich der Mann, ob ich mit Edmund Black verwandt sei. Ich sagte, ja, er war mein Vater. Er sagte: ›Ich war mit Ihrem Vater auf der High School. Er hat mir vor seinem Tod einen ganz erstaunlichen Brief geschrieben. Zehn Seiten. Im Grunde kannte ich ihn gar nicht. Wir hatten seit fünfzig Jahren nicht mehr miteinander geredet. Es war der er staunlichste Brief, den ich je bekommen habe.‹ Ich fragte ihn, ob ich den Brief lesen dürfe. Er antwortete: ›Ich glaube, er war nur für mich gedacht.‹ Ich erwiderte, es würde mir viel be deuten. Er sagte: ›Sie werden darin erwähnt.‹ Ich sagte, verste he.
Dann habe ich das Rolodex meines Vaters durchgeschaut …« »Was ist das?« »Telefonbuch. Ich habe jeden angerufen, der da rin stand. Seine Cousins, seine Geschäftspartner, Leute, die mir völlig fremd waren. Er hatte allen geschrieben. Jedem Einzel nen. Manche haben mir ihren Brief gezeigt. Andere nicht.«
»Wie waren die Briefe?«
»Der Kürzeste bestand nur aus einem Satz. Der Längste war mehrere Dutzend Seiten lang. Manche waren kleine Dramen.
Andere bestanden nur aus Fragen an den Empfänger.« »Wel che Fragen?« »›Wusstest du, dass ich damals in dem Sommer in Norfolk in dich verliebt war?‹ ›Müssen sie Steuern für meine Hinterlassenschaft bezahlen, zum Beispiel für das Klavier?‹ ›Wie funktionieren Glühlampen?‹« »Das hätte ich ihm erklä
Weitere Kostenlose Bücher