Extrem laut und unglaublich nah
ren können.« »›Gibt es wirklich Menschen, die im Schlaf ster ben?‹
Manche seiner Briefe waren witzig. Richtig, richtig witzig, meine ich. Ich hatte gar nicht gewusst, dass er so witzig sein konnte. Und einige waren philosophisch. Er schrieb über die Trauer und das Glück, er schrieb über alles, was er eigentlich immer hatte tun wollen, aber unterlassen hatte, und über alles, was er getan hatte, aber eigentlich nicht hatte tun wollen.«
»Hat er Ihnen denn keinen Brief geschrieben?« »Doch.« »Was stand darin?« »Ich mochte ihn nicht lesen. Wochenlang nicht.« »Und warum nicht?« »Die bloße Vorstellung tat mir weh.« »Ich wäre extrem neugierig gewesen.« »Meine Frau – meine Ex-Frau–meinte, ich wäre verrückt, wenn ich ihn nicht lesen würde.« »Das war aber nicht sehr verständnisvoll von ihr.« »Aber sie hatte Recht. Es war Unsinn. Ich war kindisch.« »Ja, aber Sie waren ja auch sein Kind.«
»Ja, ich war sein Kind. Richtig. Ich fange an zu plappern. Um es kurz zu machen …« »Nicht kurz machen«, sagte ich, denn obwohl es mir lieber gewesen wäre, wenn er mir von meinem anstatt von seinem Dad erzählt hätte, wollte ich, dass seine Geschichte so lang wie möglich war, denn ich hatte Angst vor ihrem Ende. Er sagte: »Ich habe den Brief am Ende doch noch gelesen. Gut möglich, dass ich irgendeine Art von Beichte erwartet hatte. Ich weiß es nicht genau. Irgendeinen Wutausbruch oder die Bitte um Verzeihung. Etwas, das mich veranlasst hätte, alles in einem neuen Licht zu sehen. Aber der Brief war ganz sachlich. Eher ein Dokument als ein Brief, wenn du verstehst, was ich meine.« »Ich glaube schon.« »Ich weiß nicht. Vielleicht war es falsch von mir, aber ich hatte erwartet, dass er sich für bestimmte Dinge entschuldigen und mir sagen würde, dass er mich liebe. Versöhnliche Worte am Lebensende. Aber im Brief stand nichts dergleichen. Er schrieb nicht einmal ›Ich liebe dich‹. Er informierte mich über sein Testament, seine Lebensversicherung, über all diese ekelhaften, geschäftlichen Dinge, an die man so ungern denkt, wenn jemand gestorben ist.«
»Waren Sie enttäuscht?« »Ich war wütend.« »Das tut mir Leid.« »Nein. Das braucht dir nicht Leid zu tun. Ich habe darüber nachgedacht. Ich habe die ganze Zeit darüber nachgedacht. Mein Vater schrieb mir, wo er welche Dinge habe und um wel che ich mich kümmern solle. Er wusste, was Verantwortung ist. Er war ein guter Mensch. Emotional zu sein ist einfach. Eine Szene kann man immer machen. Weißt du noch, wie ich mich vor acht Monaten aufgeführt habe? Das war einfach.« »Hat sich aber nicht einfach angehört.« »Doch, es war einfach. Hö hen und Tiefen geben einem das Gefühl, bedeutend und wich tig zu sein, aber im Grunde sind sie überflüssig.« »Was ist dann nicht überflüssig?« »Verlässlich zu sein. Anständig zu sein.«
»Was ist jetzt mit dem Schlüssel?« »Am Schluss des Briefes schrieb er: ›Ich habe noch etwas für dich. In der blauen Vase auf dem Schlafzimmerregal liegt ein Schlüssel. Er ist für ein Schließfach in unserer Bank. Ich hoffe, du verstehst, warum ich wollte, dass du ihn bekommst.‹« »Und? Was war darin?« »Ich habe den Brief ja erst gelesen, nachdem ich all seine Sa chen verkauft hatte. Ich hatte die Vase verkauft. Ich habe sie an deinen Vater verkauft.« » Was zum ?«
»Darum habe ich versucht, euch zu finden.« »Sie sind meinem Dad begegnet?« »Ja, aber nur kurz.« »Können Sie sich an ihn erinnern?« »Es war nur eine Minute.« »Können Sie sich trotzdem an ihn erinnern?« »Wir haben ein bisschen geplaudert.« »Und?« »Er war ein netter Mann. Ich glaube, er hat ge merkt, wie schwer es mir gefallen ist, mich von all den Sachen zu trennen.« »Können Sie ihn bitte beschreiben?« »Himmel, ich kann mich wirklich an kaum etwas erinnern.« » Bitte .« »Er war ungefähr einssiebzig groß. Er hatte braunes Haar. Er trug eine Brille.« »Welche Art Brille?« »Mit dicken Gläsern.« »Was hat er angehabt?« »Einen Anzug, glaube ich.« »Was für einen Anzug?« »Grau vielleicht?« »Stimmt genau! Bei der Arbeit hat er immer einen grauen Anzug getragen! Hatte er eine Lücke zwischen den Zähnen?« »Das weiß ich nicht mehr.« »Strengen Sie sich an.«
»Er hat gesagt, dass er auf dem Heimweg das Schild für den Verkauf gesehen habe. Er hat mir erzählt, dass er in der kom menden Woche einen Jahrestag habe.« »Am 14. September!« »Er hatte eine Überraschung für deine Mom.
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