mich küsst«, sagte sie, »küsse ich dich auch.« Ich fragte sie: »Und wenn wir uns einfach nur in den Arm nehmen?«
Sie zog mich an sich.
Ich fing an zu weinen, und ich umarmte sie ganz fest. Ihre Schulter wurde feucht, und ich dachte: Vielleicht stimmt es doch, dass man seine Tränen ganz aufbrauchen kann. Vielleicht hat Oma Recht. Der Gedanke tat mir gut, denn ich wollte einfach nur leer sein.
Und dann kam mir urplötzlich eine Erleuchtung, und ich hatte keinen Boden mehr unter den Füßen, und ich stand im Nichts.
Ich löste mich von ihr.
»Warum ist Ihre Nachricht abgebrochen?« »Wie bitte?« »Die Nachricht, die Sie auf unserem Anrufbeantworter hinterlassen haben. Sie bricht in der Mitte ab.« »Ach, das muss passiert sein, als deine Mutter abgenommen hat.«
»Meine Mom hat abgenommen?« »Ja.« »Und was dann?« »Wie meinst du das?« »Haben Sie mit ihr gesprochen?« »Ein paar Minuten.« »Was haben Sie ihr erzählt?« »Weiß ich nicht mehr.« »Aber Sie haben ihr doch bestimmt erzählt, dass ich Sie besucht habe, oder?« »Ja, klar. War das etwa falsch?«
Ich wusste nicht, ob es falsch gewesen war. Und ich wusste nicht, warum mir Mom nichts von dem Gespräch, ja nicht einmal etwas von der Nachricht erzählt hatte.
»Und der Schlüssel? Haben Sie ihr davon erzählt?« »Ich bin davon ausgegangen, dass sie Bescheid wusste.« »Und meine Suche?«
Das ergab doch alles keinen Sinn.
Warum hatte Mom nichts gesagt?
Und auch nichts unternommen?
Und sich nicht einmal gekümmert?
Und dann ergab plötzlich doch alles einen Sinn.
Plötzlich wurde mir klar, warum Mom nicht nachgehakt hatte, wenn ich auf ihre Frage, wohin ich wolle, »Nach drau ßen«, geantwortet hatte. Sie brauchte nicht nachzuhaken, denn sie wusste Bescheid.
Plötzlich war klar, warum Ada wusste, dass ich in der Upper West Side wohnte, und warum Carol schon Kekse für mich bereitgehalten hatte, als ich vor ihrer Tür stand, und warum mich
[email protected] mit: »Viel Glück, Oskar«, verabschiedet hatte, obwohl ich mir fast hundertprozentig sicher war, dass ich ihm meinen Namen nicht gesagt hatte.
Sie hatten gewusst, dass ich kommen würde.
Mom hatte längst vor mir mit allen gesprochen.
Selbst Mr Black war eingeweiht. Er musste gewusst haben, dass ich an dem Tag vor seiner Tür stehen würde, denn Mom hatte ihn bestimmt vorgewarnt. Wahrscheinlich hatte sie ihn auch gebeten, mich zu begleiten und mir Gesellschaft zu leis ten und auf mich aufzupassen. Hatte er mich überhaupt wirk lich gemocht? Und waren all seine irren Geschichten wirklich wahr? Waren seine Hörgeräte nur Attrappen? Und das magne tische Bett? Waren die Kugeln und Rosen wirklich Kugeln und Rosen?
Die ganze Zeit.
Jeder.
Alles.
Wahrscheinlich wusste Oma Bescheid.
Wahrscheinlich sogar der Mieter.
War der Mieter überhaupt der Mieter?
Meine Suche war ein Theaterstück, das Mom geschrieben hatte, und sie kannte das Ende schon, als ich noch ganz am An fang stand.
Ich fragte Abby: »Stand Ihre Tür offen, weil Sie wussten, dass ich kommen würde?« Sie zögerte ein paar Sekunden. Dann sagte sie: »Ja.«
»Wo ist Ihr Mann?« »Er ist nicht mein Mann.« »Ich. Verstehe. Überhaupt. NICHTS MEHR!« »Er ist mein Ex-Mann.« »Wo ist er?« »Bei der Arbeit.« »Aber es ist doch Samstagabend.« »Er betreut ausländische Märkte.« »Was bitte?« »In Japan ist gerade Montagmorgen.«
»Ein junger Mann möchte Sie sprechen«, sagte die Frau am Tisch ins Telefon, und ich hatte ein krasses Gefühl, weil ich wusste, dass er am anderen Ende der Leitung war, obwohl ich langsam nicht mehr genau wusste, wer »er« war. »Ja«, sagte sie, »ein sehr junger Mann.« Dann sagte sie: »Nein.« Dann sagte sie: »Oskar Schell.« Dann sagte sie: »Ja. Er möchte Sie sprechen.«
»Darf ich fragen, worum es geht?«, fragte sie mich. »Um sei nen Dad«, sagte sie ins Telefon. Dann sagte sie: »Das hat er ge sagt.« Dann sagte sie: »Okay.« Dann sagte sie zu mir: »Geh durch den Flur. Dritte Tür links. Da ist er.«
An den Wänden hingen Kunstwerke, die bestimmt berühmt waren. Aus den Fenstern hatte man einen unglaublich tollen Blick, den Dad sehr gemocht hätte. Aber ich schaute mir all das nicht an, und ich machte auch keine Fotos. Ich war noch nie im Leben so konzentriert gewesen, denn ich war dem Schloss so nahe wie nie zuvor. Ich klopfte an die dritte Tür links, die ein Schild mit der Aufschrift WILLIAM BLACK trug. Drinnen sagte eine Stimme: »Herein.«
»Was kann