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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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ich für dich tun?«, fragte ein Mann hinter dem Schreibtisch. Er war ungefähr so alt, wie Dad jetzt gewesen wäre oder vermutlich war, jedenfalls wenn Tote ein Alter ha ben. Er hatte braun-graues Haar, einen kurzen Bart und eine runde Brille mit braunem Gestell. Er kam mir irgendwie be kannt vor, und ich fragte mich kurz, ob er der Mann war, den ich oben auf dem Empire State Building durchs Fernglas gese hen hatte. Aber das war natürlich nicht möglich, denn wir wa ren ja in der 57. Straße, und die ist viel zu weit nördlich, ver steht sich von selbst. Auf seinem Schreibtisch standen ziemlich viele gerahmte Fotos. Ich warf einen raschen Blick darauf, aber es war keines von Dad dabei.
    Ich fragte: »Woher kannten Sie meinen Dad?« Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück und sagte: »Ich weiß nicht genau. Wer ist dein Dad?« »Thomas Schell.« Er überlegte kurz. Ich fand es ätzend, dass er überlegen musste. »Nein«, sagte er. »Ich kenne keinen Schell.« »Kannte.« »Bitte?« »Er ist tot, also können Sie ihn nicht mehr kennen.« »Tut mir Leid, das zu hören.« »Sie

müssen ihn trotzdem gekannt haben.« »Nein. Ganz bestimmt nicht.« »Doch, Sie müssen .«
    Ich erzählte ihm: »Ich habe einen kleinen Umschlag gefun den, auf dem Ihr Name steht, und ich dachte, es wäre vielleicht Ihre Frau, die inzwischen Ihre Ex-Frau ist, wie ich weiß, aber sie hat behauptet, nichts darüber zu wissen, und Sie heißen William, und ich bin noch lange nicht bei den W’s …« »Mei ne Frau?« »Ich habe sie besucht und mit ihr geredet.« »Mit ihr geredet? Wo?« »Im schmalsten Haus von New York.« »Wie geht es ihr?« »Wie meinen Sie das?« »Wie hat sie auf dich ge wirkt?« »Traurig.« »Traurig? Wie genau?« »Einfach traurig.« »Was hat sie gerade gemacht?« »Eigentlich nichts. Sie hat mir etwas zu essen angeboten, obwohl ich ihr gesagt hatte, ich sei gar nicht hungrig. Als wir uns unterhalten haben, war jemand im Nebenzimmer.« »Ein Mann?« »Ja.« »Hast du ihn gesehen?« »Einmal ist er an der Tür vorbeigegangen, aber meist hat er nur im anderen Zimmer gebrüllt.« »Er hat gebrüllt ?« »Extrem laut.« »Was hat er gebrüllt?« »Ich konnte ihn nicht verstehen.« »Klang es bedrohlich?« »Wie meinen Sie das?« »Hat er dir Angst eingejagt?« »Was ist mit meinem Dad?« »Wann hast du sie besucht?« »Vor acht Monaten.« »Vor acht Monaten?« »Vor sieben Monaten und achtundzwanzig Tagen.« Er lächelte. »Warum lächeln Sie?« Er vergrub das Gesicht in den Händen, als müsste er weinen, aber er weinte nicht. Er hob den Kopf und sagte: »Der Mann war ich.«
    »Sie?« »Vor acht Monaten. Ja. Ich dachte, du hättest von ges tern gesprochen.« »Aber er hatte keinen Bart.« »Er hat sich ei nen Bart wachsen lassen.« »Und er trug keine Brille.« Er nahm seine Brille ab und sagte: »Er hat sich verändert.« Ich musste an die Pixel des Standbildes vom stürzenden Körper denken und daran, dass man umso weniger sah, je genauer man hinschaute. »Warum haben Sie gebrüllt?« »Da müsste ich viel erklären.«
    »Ich habe viel Zeit«, sagte ich, weil ich alles wissen wollte, was mich Dad irgendwie näher brachte, selbst wenn es mich ver letzte. »Es ist eine sehr lange Geschichte.« »Bitte.« Er klappte ein Notebook zu, das auf seinem Schreibtisch stand, und sagte: »Es ist eine viel zu lange Geschichte.«
    Ich sagte: »Ist doch wirklich krass, dass wir vor acht Mona ten beide in der Wohnung waren und jetzt beide in diesem Büro sind, finden Sie nicht auch?«
    Er nickte.
    »Echt krass«, sagte ich. »Wir waren uns unglaublich nah.«
    Er sagte: »Was ist denn so Besonderes an dem Umschlag?« »Im Grunde nichts. Besonders ist, was darin war.« »Und was war darin?« »Das hier war darin.« Ich zog die Schnur, die ich um den Hals trug, so heraus, dass ich den Wohnungsschlüssel auf dem Rücken und Dads Schlüssel auf der Brusttasche meines Overalls hatte, auf dem Heftpflaster, auf meinem Herz. »Darf ich mal sehen?«, fragte er. Ich gab ihm den Schlüssel, ohne ihn vom Band zu lösen. Er betrachtete ihn und fragte: »Stand ir gendetwas auf dem Umschlag?« »Ja: ›Black‹.« Er hob den Kopf und sah mich an. »Hast du ihn in einer blauen Vase gefunden?« »Hammerhart!«
    Er sagte: »Ich fasse es nicht.« »Was fassen Sie nicht?« »Das ist wirklich das Unglaublichste, was mir je im Leben passiert ist.« » Was denn?« »Diesen Schlüssel habe ich zwei Jahre lang ge sucht.« »Aber ich habe acht Monate nach dem

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