Extrem laut und unglaublich nah
einander nahe. Anders als im Bett. In unserer Wohnung be gann alles durcheinander zu gehen. Wir aßen nicht am Esszimmertisch, sondern im Wohnzimmer am Kaffeetisch. Wir wollten nah am Fenster sein. Wir füllten die Standuhr mit den leeren Tagebüchern deines Großvaters, als wären sie die Zeit selbst. Wir legten seine vollen Tagebücher in die Badewanne im zweiten Bad, das wir nie benutzten. Wenn ich doch einmal schlafe, schlafwandele ich. Einmal stellte ich dabei die Dusche an. Ein paar Bücher trieben im Wasser, und ein paar waren an ihrem Platz geblieben. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, merkte ich, was ich angestellt hatte. Seine Tage färbten das Wasser grau.
Ich bin nicht verrückt, erwiderte ich.
Du musst nach Hause.
Ich bin so müde, erwiderte ich. Nicht zermürbt, sondern wie abgenutzt. Wie eine dieser Frauen, die eines Morgens beim Erwachen sagen: Ich kann kein Brot mehr backen.
Du hast doch nie ein Brot gebacken, schrieb er. Wir scherz ten immer noch.
Dann ist es eben so, als wäre ich erwacht und hätte ein Brot gebacken, sagte ich, und selbst da scherzten wir noch. Ich fragte mich, ob einmal die Zeit käme, da wir nicht mehr scherz ten. Wie wäre das wohl? Welches Lebensgefühl hätte ich dann?
Als ich ein Mädchen war, glich mein Leben Musik, die im mer lauter wurde. Alles berührte mich. Ein Hund, der ei nem Fremden hinterherlief. Das berührte mich tief. Ein Kalender, der den falschen Monat anzeigte. Ich hätte darüber weinen mögen. Ich tat es auch. Wo der Rauch aus einem Schornstein endete. Wie eine umgekippte Flasche am Rand eines Tisches lag.
Ich habe mein Leben damit verbracht, meine Gefühle abzu stumpfen.
Ich fühlte mit jedem Tag weniger.
Hat das mit dem Altwerden zu tun? Oder ist es etwas Schlimmeres?
Man kann sich nicht vor Traurigkeit schützen, ohne sich gleichzeitig vor Glück zu schützen.
Er versteckte sein Gesicht hinter dem aufgeschlagenen Ta gebuch. Als wären die Umschlagseiten seine Hände. Er weinte. Wer brachte ihn zum Weinen?
Der Gedanke an Anna?
Der Gedanke an seine Eltern?
Der Gedanke an mich?
Der Gedanke an ihn selbst?
Ich entriss ihm das Buch. Es war feucht, Tränen liefen über die Seiten, das Buch selbst schien zu weinen. Er schlug sich die Hände vors Gesicht.
Ich möchte dich weinen sehen, sagte ich zu ihm.
Ich will dich nicht verletzen, sagte er, indem er den Kopf von links nach rechts schüttelte.
Es verletzt mich, wenn du mich nicht verletzen willst, erwi derte ich. Ich möchte dich weinen sehen.
Er senkte die Hände. Auf einer Wange stand in Spiegelschrift JA. Auf einer Wange stand in Spiegelschrift NEIN. Er hielt den Kopf immer noch gesenkt. Die Tränen liefen ihm nicht über die Wangen, sondern fielen aus seinen Augen zu Boden. Ich möchte dich weinen sehen, sagte ich. Nicht, weil ich meinte, dass er es mir schuldig wäre. Und auch nicht, weil ich meinte, es ihm schuldig zu sein. Wir waren es einander schuldig, und das ist etwas anderes.
Er hob den Kopf und sah mich an.
Ich bin nicht wütend auf dich, sagte ich.
Aber das müsstest du.
Ich habe doch die Regel gebrochen.
Aber ich habe eine Regel aufgestellt, mit der du nicht leben konntest.
Meine Gedanken schweifen ab, Oskar. Ich muss an Dres den denken, an die Perlenkette meiner Mutter, feucht vom Schweiß auf ihrem Nacken. Meine Gedanken flitzen über den Mantelärmel meines Vaters. Sein Arm war so dick und kräftig. Ich war mir sicher, dass er mich mein ganzes Leben beschützen würde. Und das hat er auch getan. Selbst nach dem ich meinen Vater verloren hatte. Die Erinnerung an seinen Arm legt sich um mich, wie er früher seinen Arm um mich gelegt hat. Jeder neue Tag war an den vorhergehenden gekettet. Aber die Wochen hatten Flügel. Jeder, der glaubt, dass eine Sekunde schneller vergeht als ein Jahrzehnt, hat nicht das gleiche Leben gelebt wie ich.
Warum verlässt du mich?
Er schrieb: Ich weiß nicht, wie ich leben soll.
Das weiß ich auch nicht, aber ich versuche es wenigstens.
Ich weiß nicht einmal, wie ich es versuchen soll.
Ich hätte ihm so viel zu sagen gehabt. Aber ich wusste, dass es ihn verletzt hätte. Also begrub ich es in mir und ließ auf diese Weise zu, dass es mich verletzte.
Ich berührte ihn mit einer Hand. Es war mir immer so wichtig, ihn zu berühren. Es war etwas, wofür ich lebte. Warum, konnte ich nie erklären. Kleine, flüchtige Berüh rungen. Meine Finger an seiner Schulter. Die Berührung unserer Hüften, wenn wir im Bus aneinander gedrängt wur
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