Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
Vom Netzwerk:
den. Ich konnte es nicht erklären, aber ich brauchte es. Manchmal stellte ich mir vor, dass ich all unsere flüchtigen Be rührungen zusammennähte. Wie viele hunderttausend Male muss man sich mit den Fingern streifen, bis es das selbe ist wie miteinander schlafen? Warum schlafen die Menschen mitein ander?
    Meine Gedanken wenden sich meiner Kindheit zu, Oskar. Der Zeit, als ich ein Mädchen war. Ich sitze hier und denke an Hände voll Kieselsteine und an den Tag, als ich zum ersten Mal merkte, dass ich Haare unter den Achseln hatte.
    Meine Gedanken ringeln sich um den Hals meiner Mut ter. Ihre Perlenkette.
    Ich erinnere mich an den Tag, als mir zum ersten Mal der Duft von Parfüm gefiel, und ich erinnere mich daran, wie An na und ich im Dunkeln in unserem Schlafzimmer lagen, in un serem warmen Bett.
    Eines Nachts erzählte ich ihr, was ich hinter der Laube gese hen hatte, die hinter unserem Haus stand. Ich musste ihr ver sprechen, es für mich zu behalten. Ich versprach es ihr.
    Darf ich euch beim Küssen zuschauen?
    Ob du uns beim Küssen zuschauen darfst?
    Du könntest mir sagen, wo ihr euch küsst, und dann verste cke ich mich dort und schaue euch zu.
    Sie lachte, und damit sagte sie Ja.
    Mitten in der Nacht wurden wir wach. Ich weiß nicht, wer als Erste wach wurde. Oder ob wir gleichzeitig wach wur den.
    Wie fühlt es sich an?, fragte ich sie.
    Wie fühlt sich was an?
    Das Küssen.
    Sie lachte.
    Es fühlt sich feucht an, sagte sie.
    Ich lachte.
    Es fühlt sich feucht und weich und beim ersten Mal ziem lich komisch an.
    Ich lachte.
    So, sagte sie und packte meinen Kopf und zog mich zu sich heran.
    Ich war noch nie im Leben so verliebt gewesen, und ich war in meinem ganzen Leben nie mehr so verliebt.
    Wir waren unschuldig.
    Was sollte unschuldiger sein als die Küsse, die wir im Bett miteinander tauschten?
    Hätte es etwas weniger Wertvolles verdient, zerstört zu wer den?
    Ich sagte zu ihm: Wenn du bleibst, gebe ich mir noch mehr Mühe.
    Gut, schrieb er.
    Verlass mich nur bitte nicht.
    Gut.
    Wir vergessen diesen Tag.
    Gut.
    Aus irgendeinem Grund muss ich an Schuhe denken. An all die Paare, die ich in meinem Leben getragen habe. Wie oft meine Füße hinein und hinaus geschlüpft sind. Wie ich sie immer so vor das Fußende des Bettes stelle, dass ihre Spitzen davon wegzeigen.
    Meine Gedanken sausen durch einen Schornstein nach un ten und brennen.
    Oben Schritte. Brutzelnde Zwiebeln. Das Geklimper von Kristallgläsern.
    Wir waren nicht reich, aber wir hatten alles, was wir brauch ten. Von meinem Schlafzimmerfenster beobachtete ich die Welt. Und ich war vor der Welt in Sicherheit. Ich sah zu, wie mein Vater langsam zerbrach. Je näher uns der Krieg kam, desto mehr zog mein Vater sich zurück. War das seine einzige Möglichkeit, uns zu beschützen? Jeden Abend ver brachte er Stunden in seiner Laube. Manchmal schlief er so gar dort. Auf dem Fußboden.
    Er wollte die Welt retten. So war er eben. Aber er woll te seine Familie nicht in Gefahr bringen. So war er eben. Wahrscheinlich hat er mein Leben im Geist gegen ein Leben abgewogen, das er hätte retten können. Oder zehn Leben. Oder hundert. Wahrscheinlich war er zu dem Entschluss gelangt, dass mein Leben mehr wog als hundert andere Leben.
    In diesem Winter wurde sein Haar ganz grau. Ich glaubte, es wäre Schnee. Er versprach uns, dass alles gut würde. Ich war noch ein Kind, aber ich wusste, dass nicht alles gut wür de. Trotzdem wurde mein Vater in meinen Augen dadurch nicht zum Lügner. Er wurde zu meinem Vater.
    Es war am Morgen vor der Bombardierung, als ich beschloss, den Brief des Zwangsarbeiters zu beantworten. Ich weiß nicht, warum ich so lange damit gewartet hatte oder was mich dazu trieb, ihm an diesem Tag zu schreiben.
    Er hatte mich gebeten, ein Foto mitzuschicken. Ich moch te keins der Fotos von mir. Inzwischen weiß ich, worin die eigentliche Tragödie meiner Kindheit bestand. Sie bestand nicht in der Bombardierung. Sondern darin, dass ich mich auf Fotos nie leiden mochte. Ich mochte mich einfach nicht leiden.
    Ich beschloss, am nächsten Tag zu einem Fotografen zu ge hen und ein Foto von mir machen zu lassen.
    Abends probierte ich vor dem Spiegel alle meine Kleider aus. Ich kam mir vor wie ein hässlicher Filmstar. Ich bat meine Mutter, mir zu zeigen, wie man sich schminkt. Sie fragte nicht nach dem Grund.
    Sie zeigte mir, wie man Rouge auflegt. Wie man sich die Augen anmalt. Sie hatte mich noch nie so oft am Gesicht be rührt. Es hatte nie einen

Weitere Kostenlose Bücher