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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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an?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Wieso weißt du es nicht?«
    »Oskar, ich weiß es nicht .«
    »Bist du sauer auf mich?«
    Nichts.
    »Mom?«
    »Ja?«
    »Bist du noch sauer auf mich?«
    »Nein.«
    »Bestimmt nicht?«
    »Ich war nie sauer auf dich.«
    »Was dann?«
    »Ich war verletzt.«
UNGLAUBLICH ALLEI N
    ICH GLAUBE, ICH BIN AUF DEM FUSSBODEN EINGESCHLAFEN. ALS ICH AUFWACHTE, ZOG MOM MIR DAS HEMD AUS UND HALF MIR IN DEN PYJAMA, UND DABEI HAT SIE BESTIMMT MEINE BLAUEN FLECKEN GESEHEN. ICH HABE SIE LETZTEN ABEND VOR DEM SPIEGEL GEZÄHLT, UND ES WAREN EINUNDVIERZIG. EIN PAAR SIND RICHTIG FETT, ABER DIE MEISTEN SIND KLEIN. ICH VERPASSE MIR KEINE BLAUEN FLECKEN, DAMIT MOM SIE SIEHT, ABER ICH WILL TROTZDEM, DASS SIE MICH FRAGT, WOHER ICH SIE HABE (OBWOHL SIE DAS WAHRSCHEINLICH WEISS), UND MITLEID MIT MIR HAT (WEIL SIE BEGREIFEN SOLL, WIE SCHWER ALLES FÜR MICH IST) UND SICH SCHRECKLICH FÜHLT (WEIL SIE AN MANCHEN BLAUEN FLECKEN SCHULD IST) UND MIR VERSPRICHT, NICHT ZU STERBEN UND MICH ALLEIN ZU LASSEN. ABER SIE HAT NICHTS GESAGT. ICH HABE NICHT EINMAL IHREN BLICK MITBEKOMMEN, ALS SIE DIE BLAUEN FLECKEN GESEHEN HAT, WEIL ICH DAS HEMD ÜBER DEM KOPF HATTE WIE EINE HOSENTASCHE ODER EINEN TOTENSCHÄDEL.

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MEINE GEFÜHLE
    Über die Lautsprecher werden Flüge angekündigt. Wir ach ten nicht darauf. Die Ansagen können uns egal sein, denn wir fliegen nirgendwohin. Ich vermisse dich jetzt schon, Oskar. Ich habe dich schon vermisst, als ich noch bei dir war. Genau das war mein Problem. Ich vermisse, was ich schon habe, und ich umgebe mich mit Dingen, die mir fehlen.
    Jedes Mal, wenn ich eine neue Seite in die Maschine stecke, schaue ich deinen Großvater an. Ich bin so erleichtert, wenn ich sein Gesicht sehe. Sein Anblick gibt mir ein Gefühl von Geborgenheit. Seine Schultern sind eingefallen. Sein Rü cken ist krumm. Früher in Dresden war er ein Riese. Ich bin froh, dass seine Hände immer noch so rau sind. Die Skulpturen haben sie nie verlassen.
    Mir fällt jetzt erst auf, dass er immer noch seinen Ehering trägt. Hat er ihn bei seiner Rückkehr wieder aufgesteckt oder hat er ihn all die Jahre getragen? Bevor ich hierher fuhr, habe ich die Wohnung abgeschlossen. Ich knipste alle Lampen aus und schaute nach, ob auch kein Wasserhahn tropft. Es fällt schwer, von einem Ort Abschied zu nehmen, an dem man gelebt hat. Das kann genauso schwer fallen wie der Abschied von einem Menschen. Wir sind nach unserer Heirat eingezogen. Damals war die Wohnung größer. Wir brauchten den Platz. Wir brauchten Platz für die vielen Tiere, und jeder von uns beiden brauchte Platz für sich. Dein Großvater schloss die teuerste Versicherung ab. Ein Angestellter der Versicherung kam vorbei und machte Fotos. Wenn irgendetwas passiert wäre, hätte man die Wohnung wieder so herrichten können, wie sie gewesen war. Er verknipste einen ganzen Film. Er machte ein Foto vom Fußboden, ein Foto von der Badewanne. Ich habe das, was ich war, nie mit dem verwechselt, was ich hatte. Als der Angestellte weg war, holte dein Großvater seine eigene Kamera heraus und machte noch mehr Fotos. Was tust du da?, fragte ich ihn.
    Besser auf Nummer Sicher gehen, schrieb er. Damals glaubte ich, dass er Recht hatte, aber inzwischen habe ich mei ne Zweifel.
    Er fotografierte alles. Die Unterseiten der Regalbretter im Schrank. Die Rückseiten der Spiegel. Selbst die kaputten Sachen. Die Sachen, an die man sich eigentlich nicht mehr erinnern möchte. Er hätte die Wohnung wieder errichten können, indem er die Fotos zusammenklebte.
    Und die Türknäufe. Er fotografierte jeden Türknauf in der Wohnung. Jeden einzelnen. Als hinge die Zukunft der Welt von Türknäufen ab. Als würden wir uns Gedanken über Tür knäufe machen, wenn wir die Fotos tatsächlich einmal brau chen sollten.
    Ich weiß nicht, warum mir das so wehtat.
    Ich sagte zu ihm: Es sind nicht einmal schöne Türknäufe.
    Er schrieb: Aber es sind unsere Türknäufe.
    Ich war auch sein.
    Er machte nie ein Foto von mir, und wir schlossen nie eine Lebensversicherung ab.
    Einen Satz der Fotos bewahrte er in seiner Kommode auf. Einen anderen Satz klebte er in seine Tagebücher, um sie bei sich zu haben, falls in unserer Wohnung etwas passieren sollte.
    Unsere Ehe war nicht unglücklich, Oskar. Er wusste, wie er mich zum Lachen bringen konnte. Und manchmal brachte ich ihn zum Lachen. Wir mussten Regeln aufstellen, aber das muss jeder. Kompromisse sind nichts Schlimmes. Selbst wenn man in fast jeder Hinsicht

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