Exzession
Sekunden waren vergangen.
Genar-Hofoen und Dajeil sahen einander an.
»Was wird aus dem Kind?« fragte die Frau und strich
über die Wölbung ihres Bauches.
»Das Gehirnsubstrat des Fötus kann natürlich auch
übernommen werden«, sage der Awatara. »Meines Wissens
deuten historische Beispiele darauf hin, daß er nach einer
solchen Übertragung von dir unabhängig sein wird. So
gesehen, wird er nicht mehr Teil von dir sein.«
»Ich verstehe«, sagte die Frau. Sie hielt den Blick
immer noch auf den Mann gerichtet. »Das heißt, es wird
geboren werden«, sagte sie ruhig.
»In gewisser Weise«, bestätigte Amorphia.
»Könnte es auch ohne mich in die Simulation
übernommen werden?« fragte sie, den Blick immer noch auf
Byrs Gesicht gerichtet. Er runzelte jetzt die Stirn, sah traurig und
besorgt aus und schüttelte den Kopf.
»Ja, das wäre möglich«, antwortete
Amorphia.
»Und wenn«, sagte Dajeil, »ich beschließe,
daß keiner von uns geht?«
Der Awatara antwortete wieder in einem entschuldigenden Ton.
»Das Schiff würde mit ziemlicher Sicherheit trotzdem sein
Gehirnsubstrat lesen.«
Dajeil wandte den Blick dem Awatara zu. »Also, würde es
oder würde es nicht?« fragte sie. »Du bist doch das
Schiff, sag es mir.«
Amorphia schüttelte einmal kurz den Kopf. »In diesem
Augenblick repräsentiere ich nicht das gesamte Bewußtsein
der Sleeper«, erklärte er. »Sie ist intensiv
mit anderen Dingen beschäftigt. Ich kann nur Mutmaßungen
anstellen, aber in diesem Fall bin ich mir ziemlich sicher.«
Dajeil musterte den Awatara noch eine Weile, dann sah sie wieder
Genar-Hofoen an. »Und wie steht’s mit dir, Byr?«
fragte sie. »Was würdest du tun?«
Er schüttelte den Kopf. »Das weißt du doch«,
antwortete er.
»Immer noch dasselbe?« fragte sie mit einem verhaltenen
Lächeln im Gesicht.
Er nickte. Sein Gesichtsausdruck ähnelte dem ihren.
Ulver blickte mit hochgezogenen Augenbrauen von einem zum anderen
und bemühte sich herauszufinden, was sich da zwischen diesen
beiden Menschen abspielte. Schließlich, als sie sich immer noch
am Tisch gegenübersaßen und sich wissend angrinsten, warf
sie erneut die Arme zur Seite und platzte laut heraus: »Also?
Was jetzt?«
Weitere zweiundzwanzig Sekunden waren vergangen.
Genar-Hofoen sah sie an. »Ich habe immer gesagt, daß
ich einmal leben und dann sterben würde«, sagte er.
»Ich wollte niemals wiedergeboren werden, niemals in eine
Simulation eingehen.« Er zuckte die Achseln und sah peinlich
berührt aus. »Ihr wißt schon, das Leben in vollen
Zügen auskosten«, sagte er, »das Beste aus der einem
zur Verfügung stehenden Zeit machen.«
Ulver verdrehte die Augen. »Ja, ich weiß«, sagte
sie. Sie hatte viele Leute kennengelernt, meistens in ihrem Alter,
die dasselbe empfanden. Einige Leute glaubten, ein
gefährlicheres und damit interessanteres Leben zu führen,
weil sie immer wieder ein gespeichertes Gehirnsubstrat neu auflegten,
während andere – zu denen offensichtlich Genar-Hofoen
gehörte (sie waren erst seit so kurzer Zeit zusammen und hatten
noch keine Gelegenheit gehabt, darüber zu sprechen) – der
Meinung waren, daß man ein intensiveres Leben führte, wenn
man wußte, daß es das eigene war und man keine zweite
Chance mehr bekäme. Sie war zur der Ansicht gelangt, daß
diese Äußerung besonders häufig von jungen Leuten
getan wurde, die später, wenn sie älter wurden, sich die
Sache noch einmal überlegten. Ulver persönlich hatte
niemals Zeit gehabt für diesen modischen puristischen Unsinn;
sie hatte zum erstenmal im Alter von acht Jahren den Entschluß
gefaßt, daß ihr Leben in einem vollgesicherten, jederzeit
abrufbaren Speicher aufgezeichnet werden sollte. Sie hatte das
Gefühl, daß sie beeindruckt sein sollte von der Tatsache,
daß Genar-Hofoen auch angesichts des Todes an seinen Prinzipien
festhielt – und tatsächlich bewunderte sie ihn deswegen ein
wenig –, aber hauptsächlich fand sie, daß er einfach
ein bißchen blöd war.
Sie überlegte, ob sie etwas davon erwähnen sollte,
daß das Ganze ihrer Meinung nach eine in einem viel
höheren Grad akademische Angelegenheit sei, als sie alle es sich
vorstellen konnten; ein Teil des sich darauf beziehenden Wissens, das
sie aus den Sinnen der Sleeper Service bezogen hatte,
während sie die sich ausdehnende Exzession beobachtet hatte, war
die Erkenntnis gewesen, daß die theoretische Möglichkeit
bestand, das Phänomen könne alles überwältigen;
die Galaxis, das Universum,
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