Exzession
Sollten sie sich doch dort ihre Geschichten
zurechtlegen, wenn sie könnten. Die Übergangslösung
würde jedenfalls die Menschen auf die Übertragung ihrer
Gehirnsubstrate vorbereiten, falls und wenn die zerstörerischen
Grenzen der Exzession die Trübe Aussichten einholen
würden; das war der einzige Beistand, der ihnen geboten werden
konnte.
Was war sonst noch zu tun?
Sie sichtete die Dinge, die noch zu erledigen waren.
Wenige davon waren wirklich wichtig, fand sie. Es gab Tausende von
Studien über ihr eigenes Verhalten, die sie sich immer schon mal
hatte ansehen wollen; eine Million Mitteilungen, auf die sie nie
einen Blick verschwendet hatte; eine Milliarde Lebensgeschichten, die
sie nie bis zum Ende verfolgt hatte, eine Billion Gedanken, die sie
niemals nachvollzogen hatte…
Das Schiff stöberte im Schutt seines Lebens, während es
beobachtete, wie die hochaufgetürmte Wand der Exzession immer
näher kam.
Es sichtete die Artikel, Abhandlungen, Studien, Biografien und
Geschichten, die über es selbst verfaßt und die gesammelt
worden waren. Es gab kaum Bildschirmaufnahmen, und die wenigen, die
es gab, waren nicht der Mühe des Ansehens wert; es war noch
niemandem gelungen, eine Kamera an Bord zu schmuggeln. Es hatte das
Gefühl, daß es darauf hätte stolz sein müssen,
aber das war nicht so. Der Mangel an jeglichem visuell Interessanten
hatte die Leute nicht abgeschreckt; sie hatten das Schiff und die
Äußerungen seiner Exzentrizität überaus
faszinierend gefunden. Ein paar wenige Kommentatoren waren der
Realität der Situation sogar ziemlich nahegekommen, indem sie
den Gedanken verlauten ließen, die Sleeper Service gehöre den Besonderen Gegebenheiten an und ›Habe Irgend
Etwas Vor‹… aber derartige Rückschlüsse waren wie
ein paar verstreute Wahrheitskörner, aufgelöst in einem
Ozean von Unsinn, und im allgemeinen unlösbar mit offenkundig
paranoiden Phantasien verbunden, die nur dazu dienten, das damit
verbundene geringe Maß an Vernunft und Schicklichkeit zu
entwerten.
Als nächstes durchforstete die Sleeper Service den
gewaltigen Stapel unbeantworteter Mitteilungen, der sich im Laufe der
Jahrzehnte angehäuft hatte. Darunter fielen all jene Signale,
auf die sie nur einen kurzen Blick geworfen und die sie für
uninteressant befunden hatte, sowie andere, die sie vollkommen
mißachtet hatte, weil sie von Fahrzeugen ausgesandt worden
waren, die sie nicht mochte, und eine ganze Untergruppe von solchen,
die sie beschlossen hatte außer acht zu lassen, seit sie in
Richtung Exzession aufgebrochen war. Die gespeicherten Signale waren
banal und/oder lachhaft; Schiffe, die versuchten, mit ihr zu
streiten, Leute, die an Bord aufgenommen werden wollten, ohne sich
zuvor einlagern zu lassen, Anfragen von Nachrichtendiensten oder
Privatpersonen, die um ein Interview baten oder sich einfach nur mit
ihr unterhalten wollten… ein unbeschreiblicher Müll an
sinnlosem Geschwätz. Sie hielt inne in ihrer Durchsicht der
Signale und richtete den Scanner nur noch jeweils auf die erste
Zeile.
Gegen Ende dieses Vorgangs hob sich eine Mitteilung von den
übrigen ab, die durch eine Namensunterstreichung als interessant
herausgestellt war. Dieses eine Signal war der Anfang einer ganzen
zusammengehörigen Serie, alle von demselben Schiff, dem
Eingeschränkten System-Fahrzeug Nur Ernstmeinende
Anrufer.
Betreffs Gravious lautete die erste Zeile.
Das Interesse der Sleeper Service war geweckt. War dies
also die Wesenheit, der der verräterische Vogel seine Berichte
geschickt hatte? Sie öffnete eine pralle Eingangsdatei von dem
ESF, vollgepackt mit einem umfangreichen Signalwechsel, mit
Dateibestimmungen, Anmerkungen, Kontextualisationen, Definitionen,
Bedeutungserklärungen, Einschüben, zitierten Dialogen,
Quellennachweisen, Aktenzeichen und Referenzen.
Und das war die Aufdeckung einer Verschwörung.
Sie las den Nachrichtenaustausch zwischen der Nur Ernstmeinende
Anrufer, der Vorfreude Auf Die Ankunft Eines Neuen Geliebten und der Erschieß Sie Später. Sie sah, und sie
hörte, sie machte sich mit Hunderten von Beweisstücken
vertraut, indem sie sich zum Teil in sie hineinversetzte – dazu
gehörte zum Beispiel die uralte Drohne an der Seite eines alten
Mannes namens Tishlin, hinausblickend auf eine Insel, die im
nachtdunklen Meer schwamm –, und sie begriff; sie zählte
eins und eins zusammen und kam auf zwei; sie arbeitete mit dem
Verstand, sie stellte Berechnungen und Schlußfolgerungen
an.
Das Schiff wandte
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