Ezzes
Als Beamter hatte er neutral zu sein, seine Gedanken hatten gefälligst seine Gedanken zu bleiben, ein Exponieren, gleich in welche Richtung, war objektiv unstatthaft. Bronstein spürte eine gewisse Nervosität in sich aufsteigen. Bis jetzt, so sagte er sich, hatte er noch keine Aussage getroffen, die seinem Stand abträglich wäre, doch er bewegte sich ohne Frage auf dünnem Eis.
„Sehen Sie, das sage ich meinem Herrn Papa auch immer“, sprang ihm unerwartet die Kvitek bei, „wenn man lautstark verkündet, dass sich alles ändern wird, dann muss sich wenigstens etwas ändern, wenn man glaubwürdig sein will.“
Professor Kvitek tätschelte seiner Tochter begütigend die Hand und sah dann Bronstein mit einem milden Lächeln an: „Es ist das Vorrecht der Jugend, stürmisch und ungeduldig zu sein. Meine Tochter hat das alles nicht erlebt, diese Agonie der Monarchie, die Streitereien im Parlament, das Elend in den Arbeiterquartieren. All das kennt sie zum Glück nur aus den Geschichtsbüchern. Doch wenn man, so wie Sie und ich, weiß, wie das damals war, dann vermag man die herkulische Dimension der Aufgabe zu ermessen, der sich die Demokratie zu stellen hat. Es lässt sich nicht von heute auf morgen aus der Welt schaffen, was Jahrhunderte wie ein Alb auf den Nationen lag.“
Bronstein war beeindruckt: „Das haben S’ jetzt aber schön g’sagt, Herr Professor“, entfuhr es ihm.
„Ja, aber genau das ist das Problem der Demokratie“, platzte es aus Kviteks Tochter heraus, „es wird immer schön geredet, aber es kommt nur ganz selten zur Tat. Das sieht man doch gerade hier in Österreich so klar. Die alten Eliten sind immer noch am Ruder. Gut, der Kaiser musste gehen. Und der Herr Fürst darf sich nicht mehr VON nennen. Aber er hat immer noch denselben Einfluss, und es sagt auch weiterhin jeder Fürst zu ihm. Schauen Sie sich nur um, Herr Bronstein, wer da aller noch Herr Graf, Herr Baron und Fräulein Hoheit ist. Dieser ganze Umsturz 1918, das war nicht einmal alter Wein in neuen Schläuchen, das waren nur neu angemalte Schläuche.“
„Na, Herr Professor“, lachte jetzt Bronstein, „Sie haben da ja eine kleine Revolutionärin an der Hand.“
„Ja, ja“, nickte der, „wie gesagt: Vorschnell ist die Jugend mit dem Wort.“
„Jössas“, sagte da Bronstein, „spät is’ worden. Es war mir wirklich eine sehr große Freude, mit Ihnen beiden diesen Abend zu verbringen, aber ich fürchte, ich muss mich jetzt zurückziehen. Immerhin will ich mich morgen ordentlich in der freien Natur ertüchtigen. Aber wer weiß, vielleicht sieht man sich ja morgen Abend wieder?“
„Ja, das wäre sehr nett“, entgegnete Kvitek.
Bronstein erhob sich, verbeugte sich artig vor der jungen Kvitek und verabschiedete sich dann vom Professor. Er nannte dem Kellner zur Sicherheit nochmals seine Zimmernummer und raunte ihm, während er ansprechendes Trinkgeld überreichte, zu, dass die Desserts der Kviteks auf seine Kappe gingen. Dann begab er sich ins Foyer, nahm seinen Schlüssel entgegen und steuerte sein Zimmer an. Nicht, dass ihm die Unterhaltung nicht großen Spaß gemacht hätte, aber angesichts der Wendung, die das Gespräch gegen Ende genommen hatte, hatte er sich nicht mehr wirklich wohl gefühlt. Um sich nicht zu einer unbedachten Äußerung hinreißen zu lassen, hatte er es für klüger gehalten, sich zurückzuziehen. Si tacuisses, wie es so schön hieß. Er legte sein Jackett ab und sah sich im Zimmer um.
Auf der Kommode lag eine Ausgabe des „Kleinen Blattes“ vom Vortag. Das mochte vielleicht die richtige Einschlaflektüre sein, sagte er sich, während er sich anschickte, sich zur guten Nacht zu rüsten. Auf Seite 4 der Zeitung stieß er auf den Bericht über die Verhandlungen im Schattendorf-Prozess. Da lasen sich die Dinge mit einem Mal völlig anders. Während die Heimwehrler als feige Denunzianten dargestellt wurden, pries das Blatt Preschitz als ehrlichen und aufrichtigen Arbeiter, dessen Besonnenheit ein Glanzlicht des gesamten bisherigen Prozessverlaufs gewesen sei. In der Tat las sich Preschitz’ Aussage im „Kleinen Blatt“ so, dass er in all seinen Bemühungen stets von dem Gedanken geleitet gewesen sei, mögliches Unglück zu verhindern. Bronstein ertappte sich bei dem Gedanken, dassihm diese Aussage plausibel vorkam. Er kannte die Sozis nun schon seit fast dreißig Jahren, und entgegen ihren großen Worten bei ihren Versammlungen waren sie in der Praxis stets vorsichtig und von generell
Weitere Kostenlose Bücher